Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
rätselhaft, warum kleine Kinder Männer wie Emerson mögen. Man sollte doch vermuten, daß seine tiefe Stimme und seine hünenhafte Gestalt Kinder zutiefst abschrecken. Schon nach kurzer Zeit kicherte sie, weil er auf der Suche nach dem vermeintlichen Löwen das Badezimmer auf den Kopf stellte, und schließlich ließ sie sich von Ramses ins Wasser eintauchen. Mit meiner Hilfe jagte Emerson den Löwen aus dem Zimmer und verschloß die Tür, um ihn an einer Rückkehr zu hindern. »Mein geliebtes Mädchen«, sagte er und nahm mich in seine Arme.
»Ich werde nicht weinen, Emerson. Wie du weißt, bin ich grundsätzlich kein sentimentaler Mensch. Doch als ich bemerkte, wie liebevoll er mit ihr umging und wie sehr sie an ihm hängt … Gütiger Himmel!«
Emerson wühlte in seiner Jackentasche und zerrte sein Taschentuch hervor. Er wirkte so überrascht und erfreut darüber, daß er tatsächlich eins fand, daß wir beide losprusteten – in meinem Fall etwas feucht.
»Aber, aber«, meinte Emerson, »wir werden schon ein Zimmer für die Kleine finden, oder? Sie wird uns keine Mühe machen.«
Ich ging davon aus, daß sie erhebliche Mühe machen würde – wie alle kleinen Kinder –, sagte jedoch statt dessen: »Gewiß, Emerson. Ist dir allerdings bewußt, daß die Drohungen des alten Burschen hundertprozentig zutreffen? Niemand wird uns abnehmen, daß sie nicht Ramses’ Kind ist, auch wenn wir das vehement abstreiten.«
»Warum zum Teufel sollten wir irgend etwas abstreiten?« ereiferte sich Emerson. Energisch schob er sein Kinn vor. »Wir kennen die Wahrheit. Was sie sagen – wer wagte es überhaupt? –, laß sie doch reden!«
»Sicher, Emerson, aber Ramses’ Reputation wird darunter leiden. Er wird ohnehin schon zu Unrecht verdächtigt.«
»Manche Männer wären stolz auf einen solchen Ruf.«
»Das ist leider richtig, aber unser Sohn gehört nicht zu dieser Spezies. Er würde es niemals zugeben, aber dieser Verdacht verletzt ihn tief. Und Nefret wird … Wo ist sie überhaupt? Hast du sie gesucht?«
»Noch nicht. Wollen wir gemeinsam auf die Suche gehen?«
Nefret war ausgegangen. Wir standen in ihrem Zimmer und lasen gerade die von ihr hinterlassene Notiz, als Ramses hereinplatzte.
»Sie schreibt, daß sie für einige Tage bei Freunden wohnen wird«, berichtete ich. »Damit meint sie die Vandergelts. Ramses, du darfst ihr nicht böse sein; hätte sie Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre ihr vieles klarer, aber es war ein solches Schockerlebnis. Willst du sie nicht suchen?«
Ramses starrte auf den Zettel, den er gedankenverloren zerknüllt hatte. »Sie suchen«, wiederholte er. »Großer Gott!«
»Was ist denn?« bohrte Emerson.
»Ich hätte es wissen müssen … Sie suchen. Ja, ich muß sie finden. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
Aus Manuskript H
Das Haus, in dem er Rashida und das Kind untergebracht hatte, war in Maadi, weit entfernt von Rashidas früherer Behausung und von einem berühmt-berüchtigten Haschischlieferanten. Es gehörte zu den Schlupfwinkeln, die er und David häufiger aufgesucht hatten, wenn sie in malerischen Verkleidungen die Souks durchstreift und diverse illegale Aktivitäten unternommen hatten. (Damals waren sie noch sehr jung gewesen; doch das war vermutlich keine Entschuldigung für einige ihrer Unternehmungen.)
Die alte Frau, der das Haus gehörte – und das teilweise dank seiner finanziellen Unterstützung –, war gebrechlich und fast blind, und ihr Kommen und Gehen hatte sie herzlich wenig interessiert. Trotzdem war sie auf ihre verhaltene Art freundlich, und er hatte ihr einen geringen Aufschlag gezahlt, um sicherzugehen, daß es dem Kind an nichts fehlte. Rashidas mütterliche Instinkte waren aufgrund ihrer zweifelhaften Vergangenheit etwas verkümmert; in gewisser Weise hing sie sehr an ihrer Tochter, trotzdem konnte Ramses sich nicht darauf verlassen, daß sie seinen Wünschen entsprechend handelte. Ihm war klar, daß er Sennia früher oder später seiner eigenen Mutter würde vorstellen müssen, und er nahm an, daß sie das Kind vermutlich eher akzeptierte, wenn man die Kleine an regelmäßiges Baden, saubere Kleidung und gewisse Tischmanieren gewöhnte.
Wieder einmal hatte er seine Mutter unterschätzt. Er hätte wissen müssen, daß sie sich selbst übertraf – für das Kind und für ihn.
Die alte Frau hockte auf einer Bank vor ihrer Haustür und blinzelte ins Sonnenlicht. Sie erklärte ihm, daß Rashida und das Kind am frühen Morgen aufgebrochen und
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