Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
… Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, Mutter. Mittlerweile hätte ich sie mit Sicherheit aufgespürt, wenn sie irgendwo in Kairo wäre – und noch lebte.«
»Wäre sie tot, hätte man ihre Leiche gefunden«, wandte ich ein.
»Nein. Über ihren Tod würde niemand berichten. Man hätte sie genau wie den Unrat auf der Straße beseitigt.«
Über seinem gesenkten Kopf traf mein Blick auf den Emersons, und in dessen stahlblauen Augen fand ich die Bestätigung für Ramses’ traurige Worte.
»Was ist mit Kalaan?« fragte er.
»Ich habe herausgefunden, wo er wohnt. Das war gar nicht so einfach. Keine seiner Frauen wußte es – wie sollten sie auch –, und er hängt seinen Aufenthaltsort auch nicht an die große Glocke. Das Haus befindet sich in Heliopolis – ein recht elegantes Anwesen. Niemand war dort. Das Haus war verschlossen und wie leergefegt.«
»Woher weißt du das? Bist du heimlich eingestiegen?« wollte Emerson wissen.
»Nun, ja, so könnte man es nennen. Aufgrund der Staubschicht würde ich behaupten, daß er seit mindestens einer Woche nicht mehr dort war, und da außer ein paar Möbelstücken alles fehlte, glaube ich auch nicht, daß er in naher Zukunft zurückkehrt.«
Emerson legte seine Hand auf Ramses’ Schulter.
»Wir werden ihn finden. Man hat uns bislang noch nie geschlagen, und das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Wie sollten wir auch auf der Verliererseite stehen, wo wir doch deine Mutter und ihre fatale Schirmkollektion zur Hand haben?«
»Ganz recht«, erwiderte ich schroff und tätschelte Ramses’ andere Schulter. »Geh jetzt schlafen. Morgen früh nimmst du das alles mit anderen Augen wahr. Vor dem Morgengrauen neigt man immer zum Schwarzsehen.«
Ramses entfuhr ein unterdrückter Laut – möglicherweise ein Lachen oder ein verhaltener Fluch –, dann erhob er sich schwerfällig. »Ja, Mutter.«
»Ich frage mich, inwieweit Nefret Geoffrey unterrichtet hat«, bemerkte ich. »Wir werden ihn ins Vertrauen ziehen müssen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Ramses. »Schließlich gehört er jetzt zur Familie, nicht wahr?«
Am nächsten Morgen brachte Ramses Sennia – ohne meine vorhergehende Erlaubnis – mit zum Frühstück. Der Anblick des Kindes riß Emerson aus seiner normalerweise schlechten morgendlichen Verfassung, und er verhielt sich so liebenswürdig, wie ich ihn um diese Uhrzeit schon seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Horus begleitete die beiden. Er legte sich so dicht neben das Kind auf den Boden, wie es ihm eben möglich war, und ließ den Blick nicht von ihr ab. Bald darauf gesellten sich Lia und David zu uns, da sie es nach Lias Aussage nicht länger auf dem Hausboot ausgehalten hatten. Es war beinahe wie in alten Zeiten, alle lachten und fielen einander ins Wort, da David Emerson unbedingt von Kreta berichten und Lia einen Rundgang durch unser Haus machen wollte, und beide fütterten Sennia ständig mit irgendwelchen Leckerbissen, während Fatima wie ein unsichtbarer Geist über den Tisch wachte. Das neue Kindermädchen stand scheu im Türrahmen, sie fürchtete sich, näher zu kommen, war aber gleichzeitig nicht bereit, ihre Verantwortung gänzlich anderen zu überlassen. Schließlich war Sennia so mit Marmelade bekleckert, daß selbst Emerson keinen Protest einlegte, als ich sie auf ihr Zimmer bringen ließ. Im Triumphzug trug das Kindermädchen sie fort. Horus erhob sich und folgte ihnen.
»Mach dir keine Sorgen, Mutter«, bemerkte Ramses, der meinen Gesichtsausdruck exakt zu deuten wußte. »Ich mußte ihn heute morgen vor dem Schlimmsten bewahren; Sennia hielt seinen Schwanz mit beiden Händen umklammert und wollte gerade hineinbeißen. Als ich die beiden trennte, hat er mich nicht einmal gekratzt.«
»Wie lange hast du gewartet, ehe du sie auseinanderbrachtest?« fragte David. Er hatte Horus ebenfalls nie ausstehen können.
»Etwas länger als eigentlich erforderlich.« Ramses grinste. Es erleichterte mich, daß er wieder etwas erholter und entspannter schien. Davids Rückkehr wirkte sich positiv auf ihn aus.
Emersons Versuche, die Marmeladenflecken aus seinem Hemd zu entfernen, blieben fruchtlos. Sie sahen so gräßlich aus wie frische Blutspuren.
»Du ziehst dich besser um«, wandte ich ein.
»Das ist nicht erforderlich«, knurrte Emerson. »Ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausritt unternehmen und – äh –«
»Uns kurz das Grabungsgebiet ansehen? Emerson, ich hatte dir bereits zu verstehen gegeben –«
»Ein Ausritt ist
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