Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
aber beileibe nicht so bleich wie Nefret. Sie schwankte und wäre gestürzt, wenn Emerson sie nicht aufgefangen hätte. »Ohnmächtig«, bemerkte er, als ihr goldener Schopf an seine Brust sank. »Kein Wunder.«
Als ich einen erneuten Blick auf den Schauplatz der Tragödie warf, bemerkte ich, daß Selim in Richtung des Pyramideneingangs stürmte. Ich wußte, was er vorhatte, und dankte ihm im stillen, daß er aus eigener Initiative handelte. Schließlich mußte irgend jemand die Vorkehrungen für die Beseitigung der sterblichen Überreste treffen, und Jack war noch immer bewußtlos, Ramses sah aus, als kämpfte er gegen eine Übelkeit an, und Emersons Hemd war blutdurchtränkt; kurzum, die Situation war so prekär, daß sie sogar mir über den Kopf wuchs. Lia war die einzig weitere Anwesende, die die Ursache für den zuletzt eingetretenen Ernstfall begriff; über Nefret gebeugt, entfuhr es ihr: »Tante Amelia, sie ist –«
»Ja, Lia, ich weiß. Daoud, transportiere Nefret so schnell und so vorsichtig wie möglich zurück zum Haus. Lia, begleite sie. Und suche Kadija auf, denn sie wird wissen, was zu tun ist. Emerson, zieh dein Hemd aus, damit ich dich untersuchen kann.«
Allerdings gestattete er keinem anderen, seine Adoptivtochter anzurühren. Der drängende Unterton in meiner Stimme hatte meine ihr gegenüber gehegte Besorgnis offenbart; ihm war klar, daß irgend etwas nicht stimmte. Ohne eine weitere Frage marschierte er davon, und seine energischen Bewegungen demonstrierten mir, daß er nicht ernsthaft verletzt war.
»Und was soll ich jetzt tun, Tante Amelia?« fragte David. »Begleite sie«, sagte Ramses, bevor ich etwas erwidern konnte. »Sag Vater, daß er Risha nehmen soll.«
Das war ein vernünftiger Vorschlag; der gewaltige Hengst war den anderen an Kraft und Geschwindigkeit weit überlegen, und er war leicht zu handhaben. Hin und her gerissen im Konflikt mit seinen Pflichten, zögerte David. Ungehalten erklärte Ramses: »Verflucht, beeil dich. Mutter und ich werden auf Moonlight zurückreiten.« Als David davonrannte, warf er mir noch einen entschuldigenden Blick zu, den ich jedoch für überflüssig hielt. Ich entkorkte die an meinem Gürtel hängende Brandyflasche.
»Ich will keinen Brandy«, murmelte Ramses. »Du sollst ihn auch nicht trinken. Streck deine Hände aus. Es gibt nichts Schmutzigeres als Fingernägel und menschliche Gebisse.«
»Beim Allmächtigen, Mutter!«
»Flüche muß ich von Zeit zu Zeit akzeptieren, aber Blasphemie lasse ich nicht zu«, erwiderte ich streng. »Und jetzt strecke deine Hände aus.«
»Vater wurde verletzt«, murmelte Ramses. Er verzog keine Miene, als der Alkohol über die blutigen Striemen auf seinen Handrücken floß. »Ich dachte, es wäre nur ein Schuß gefallen. Was hat Nefret denn eigentlich?« »Das ist nicht der Rede wert«, erwiderte ich und hoffte, daß das der Wahrheit entsprach. »Laß mich kurz mit Selim und Daoud reden, und dann machen wir uns auf den Weg.«
Es überraschte mich nicht, als Selim mir berichtete, daß Geoffrey tot war. Ich schätze, man wird mich nicht der Hartherzigkeit bezichtigen, wenn ich gestehe, daß ich das insgeheim sogar gehofft hatte. Ich erteilte Selim die notwendigen Instruktionen und schlenderte dann zu Jack, der mittlerweile wieder bei Bewußtsein war. Nefret hatte seine Verletzung fachmännisch verbunden, trotzdem war er meiner Ansicht nach zu schwach für einen Ritt. Also gab ich ihm einen kleinen Schluck Brandy und wies ihn an, noch so lange zu verweilen, bis Selim ein Transportmittel organisiert hatte. Als ich zu Ramses zurückeilte, stand er noch immer an derselben Stelle, an der ich ihn zurückgelassen hatte, und blickte abwesend nach Norden. Zum ersten Mal handelte er ohne vorherige Auseinandersetzung; er hob mich auf Moonlight und schwang sich dann auf Geoffreys Pferd. In atemberaubendem Tempo galoppierten wir nach Hause.
Als ich den Salon betrat, erwarteten sie mich bereits – Emerson, Ramses und David. Ich war zu müde und zu mitgenommen, um mich mit gewählten Worten zu artikulieren; und es wäre auch herzlos gewesen, sie auf die Folter zu spannen.
»Sie hatte eine Fehlgeburt«, erklärte ich. »Es ist vorbei. Für sie besteht keine Gefahr. Lia und Kadija sind bei ihr.«
Ramses setzte sich genau wie Königin Victoria, die nie darauf achtete, ob überhaupt ein Stuhl bereitstand. Glücklicherweise stand er vor dem Sofa.
»Sieh mich nicht so an«, entfuhr es mir. »Es geht ihr gut. So etwas ist …
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