Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
jeden einen Whiskey-Soda ein, selbst für Lia, die nie Whiskey-Soda trank. Mit einem höflichen Nicken nahm Willoughby sein Glas in Empfang.
»Ich will nichts beschönigen, liebe Freunde«, meinte er ernst. »Die Situation ist prekärer, als ich dachte. Ich glaube, daß sie mich bis zu einem gewissen Punkt ins Vertrauen zieht, trotzdem quält sie etwas, das sie nicht einmal mir anvertrauen will.« Seine sanftmütigen grauen Augen – die Augen eines Mannes, der Kummer gewohnt war – blickten sorgenvoll von einem zum anderen. »Eines müssen Sie verstehen; und vielleicht erleichtert Sie das. Für das, was geschehen ist, glaubt sie allein sich selbst verantwortlich. Der Grund für ihr derzeitiges Dilemma ist nicht wie von mir vermutet Trauer, sondern ihre tief empfundene Schuld.«
»Schuld!« ereiferte ich mich. »Um Himmels willen, woran denn? Das ist lächerlich, Dr. Willoughby. Niemand macht sie für irgend etwas verantwortlich; wie sollten wir auch? Das werde ich richtigstellen.«
»Wenn das so einfach wäre!« Seufzend schüttelte Dr. Willoughby den Kopf. »Ich bin kein Anhänger der modernen Psychoanalyse, Mrs. Emerson, dennoch hat mich jahrelange Erfahrung gelehrt, daß den Ursachen mentaler Störungen nicht mit rationaler Argumentation beizukommen ist. Sie können einen Menschen, der an Melancholie leidet, nicht heilen, indem Sie ihm Glücksmomente suggerieren. Und genausowenig schaffen Sie Nefrets Schuldgefühle aus der Welt, indem Sie ihr erklären, daß sie unbegründet sind. Damit muß sie allein fertigwerden.«
Meine eigene Erfahrung vermittelte mir, daß er recht hatte. »Aber können wir nicht wenigstens eruieren, warum sie Schuldgefühle hat?« beharrte ich.
»Das ist die Aufgabe des Fachmanns«, erwiderte Willoughby. »Und weder meine noch Ihre – schon gar nicht Ihre, Mrs. Emerson, wenn ich das betonen darf. Die Macht der Liebe ist stark, und doch kann sie die erforderliche medizinische Diagnose und Behandlung negativ beeinflussen.«
»Mit anderen Worten«, erwiderte Emerson brüsk, »wir sollen uns aus der Sache raushalten.«
»Ich hätte es vermutlich anders formuliert.« Willoughby lächelte. »Seien Sie guten Mutes, meine Freunde, schließlich habe ich Ihnen zunächst die schlechte Nachricht mitgeteilt. Die gute ist, ich bin sicher, daß sie bald wieder gesund wird.«
»Können wir denn irgend etwas für sie tun?« wollte Emerson wissen.
»Ursprünglich spielte ich mit dem Gedanken, sie nach Luxor in meine Klinik verlegen zu lassen. Inzwischen glaube ich, daß es ratsam wäre, sie von sämtlichen Einflüssen fernzuhalten, die sie an die Tragödie erinnern.«
»Uns eingeschlossen?« fragte Ramses, der bislang geschwiegen hatte.
»Ich weiß es nicht«, gestand Willoughby betrübt. »Wir könnten eine Krankenschwester für sie engagieren; in der Schweiz gibt es ein auf solche Fälle spezialisiertes Privatsanatorium.«
»Ich werde die beiden begleiten«, erwiderte ich unumwunden. »Natürlich ohne Nefrets Wissen, falls Sie das für ratsam halten.«
Willoughby grinste mich an. »Ich wußte, daß Sie das sagen würden. Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
Bald darauf wurden die nötigen Vorkehrungen eingeleitet. Mit der Unterstützung des Arztes berichtete ich Nefret von unserem Vorhaben.
Es war mein erster Besuch nach mehreren Tagen. Ich hatte Skrupel wegen dieser Unterredung; obwohl ich wußte, daß es für sie das beste war; der sensible Leser wird diese Konfliktsituation verstehen. Nefret saß in einem ihrer bezaubernden Hauskleider am Fenster; ihre Betreuerin Kadija schlüpfte bei meinem Eintreten aus dem Zimmer. Mir war klar, daß diese ruhige, liebenswürdige Frau ihr beim Ankleiden und Frisieren geholfen hatte. Sie sah besser aus, und sie begrüßte mich mit einem angedeuteten Lächeln.
»Dr. Willoughby hat dir bereits mitgeteilt, daß wir dich in die Schweiz schicken wollen?« fragte ich, während ich mich neben sie setzte.
»Ja, es tut mir leid, daß ich euch so viele Schwierigkeiten bereite.«
Ihre apathische Stimme ging mir zu Herzen und brachte meine übliche Selbstbeherrschung ins Wanken. Ich griff nach ihrer Hand. »Weißt du denn nicht, daß wir für dich jede Schwierigkeit in Kauf nähmen? Schließlich lieben wir dich wie eine Tochter.«
Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie soeben geschlagen. Die Finger der von mir umklammerten Hand bewegten sich, aber nicht, um sich mir zu entwinden, sondern um meine fester zu drücken. »Du weißt nicht, was ich getan
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