Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
Pfeifenmundstück glitt über die lange, gestrichelte Linie, die de Lesseps’ überragende Leistung dokumentierte. »Unsere Leute haben die Kanalschleuse geöffnet und die Wüste fast zwanzig Meilen nach Norden hin überflutet. Bleiben weitere sechzig Meilen, die verteidigt werden müssen. Boote patrouillieren auf dem Großen und dem Kleinen Bittersee, doch der Rest wird von ein paar Heckenschützen und einer Horde englischer Tölpel observiert.«
»Da wären noch die ägyptische Artillerie und zwei indische Infanteriedivisionen.«
»Und alle sind Moslems. Was wäre, wenn sie sich dem heiligen Krieg anschließen würden?«
»Sie sind nicht erpicht auf die Türken«, erwiderte Ramses.
»Wir wollen es hoffen. Wie dem auch sei, es sind nicht genug. Der Feind hat über hunderttausend Soldaten aufmarschieren lassen.«
»Ich werde dich nicht fragen, woher du das weißt.«
»Das ist allgemein bekannt. Leider. Ich gehe jede Wette ein, dass das türkische Oberkommando genauso viel über unsere Verteidigungslinien weiß wie wir. Was dein kleines Problem betrifft, so dürfte es nicht weiter schwierig sein, Waffen über den Sinai zum Suezkanal oder zum Golf von Suez zu transportieren. Die Frage ist: Wie transportieren sie die Waffen von dort nach Kairo? Du kennst die östliche Wüste. Wie gut kennst du sie?«
»Gut genug, um zu wissen, dass zwischen Kairo und dem Suezkanal nur wenige brauchbare Routen verlaufen.« Ramses beugte sich über die Landkarte. »Auf den nördlichen Routen, die wir benutzen, herrscht reger Verkehr. Abgesehen von der Schwierigkeit, die Bitterseen trotz der Patrouillenboote zu überqueren, ist das Gebiet südlich von Ismailija zu unwegsam für Kamele und Karren. Es ist keine Sandwüste, sondern eine von Wadis durchzogene Gebirgs- und Felswüste. Manche der Berge sind zweitausend Meter hoch.«
»So?«, fragte Emerson wie ein geduldiger Lehrer, der ein begriffsstutziges Kind motivieren will. Zumindest hatte sein Sohn diesen Eindruck.
»Also ist diese hier die wahrscheinlichste Route.« Ramses deutete auf eine gepunktete Linie, die von Kairo direkt zum Suezkanal verlief. »Der alte Karawanen- und Pilgerpfad nach Mekka. Das ist auch die kürzeste Strecke.«
»Stimmt. Warum reiten wir nicht morgen los und sehen sie uns an?«
»Ist das dein Ernst?«
»Selbstverständlich.« Emerson schob sein Kinn vor. »Früher oder später werden sie dich über das genaue Datum ihres Angriffs informieren müssen, so dass du deine kleine Revolution zeitlich mit ihnen abstimmen kannst. Wenn sie allerdings so viel Verstand besitzen, wie ich vermute, werden sie bis zum letztmöglichen Augenblick warten. Ich möchte dich und David aus dieser Sache heraushaben, Ramses. Es – äh – beunruhigt deine Mutter.«
»Ich bin auch nicht sonderlich glücklich mit dieser Situation«, gestand Ramses. »Deine Idee ist vermutlich einen Versuch wert.«
Ramses war weitaus weniger begeistert, als er vorgab. Er hielt es für extrem unwahrscheinlich, dass sie zu irgendwelchen Aufschlüssen gelangen würden. Dennoch konnte er die Motive seines Vaters für diesen Vorschlag nachvollziehen. Wardanis Anhänger waren nicht die Einzigen, denen das Warten schwer fiel.
Nachdem sie die Details geklärt hatten, griff Emerson zu einem Buch, und Ramses schlenderte zum Fenster. Der schemenhafte, vom Sternenlicht erhellte Garten war ein wunderschöner Anblick – er wäre es zumindest gewesen, wenn man nicht in jedem dunklen Winkel Herumtreiber und hinter jedem Rascheln verdächtige Schritte vermutet hätte. Verdrossen sinnierte er, ob er jemals eine schöne Aussicht würde genießen können, ohne an solche Dinge zu denken. Da er seine Familie kannte, lautete die Antwort wahrscheinlich nein. Selbst wenn kein Krieg herrschte, zogen seine Mutter und sein Vater Widersacher an wie der Speck die Mäuse.
Er sollte noch arbeiten – die Kopien der Grabinschriften inspizieren und diese mit Nefrets Fotos vergleichen. Sein Vater sollte seine Ausgrabungsberichte vervollständigen. Ramses war klar, warum sein Vater dort saß und angeblich in ein Buch vertieft war; seit fünf Minuten hatte er die Seite nicht umgeblättert. Wie viel Überwindung kostete es ihn, seine Frau allein ausgehen zu lassen, um Problemen gegenüberzutreten und möglicherweise in Schwierigkeiten zu geraten? Ramses kannte die Antwort; er spürte es auch, wie einen dumpfen Schmerz, der seinen gesamten Körper befiel.
Es war beinahe Mitternacht, als sie zurückkehrten. Diesmal war das
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