Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
man muss tun, was man kann, hm?«
»Ja, mein Schatz.«
Emerson drückte mich so fest, dass meine Rippen knackten. »Jetzt gehe ich an die Arbeit. Begleitest du mich?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich werde auf Nefret warten und vielleicht ein bisschen mit ihr plaudern.«
Emerson verschwand, und nachdem ich bequeme Kleidung angezogen hatte, ging ich auf das Dach des Hauses, wo ich Tische und Stühle, Topfpflanzen und Sonnenblenden aufgestellt hatte, um die ungezwungene Atmosphäre eines Freiluftsalons zu schaffen.
Vom Dachfirst konnte man (an klaren Tagen) meilenweit in alle Richtungen blicken: im Osten auf den Fluss und die ausgedehnten Randbezirke von Kairo, überragt von dem hellen Kalkstein des Mokattam-Gebirges; im Westen, hinter dem Kulturland, breitete sich die endlose Wüste aus und darüber ein strahlend blauer, sich ständig verändernder Himmel mit faszinierenden Sonnenuntergängen. Am liebsten schaute ich nach Süden. In der näheren Umgebung erhoben sich die Silhouetten der Pyramiden von Gizeh, wo wir in diesem Jahr arbeiten würden. Das Haus lag günstig am Westufer, nur wenige Meilen entfernt von unseren Exkavationen und Kairo direkt gegenüber. Es war beileibe nicht so gemütlich und durchdacht wie unser früherer Wohnsitz in der Nähe von Gizeh, doch in dieses Haus wollte keiner von uns zurückkehren. Es barg zu viele unliebsame Erinnerungen. Für gewöhnlich versuchte ich, diese zu verdrängen, doch Emersons düstere Bemerkungen beschäftigten mich mehr, als ich ihm gegenüber eingestand.
Natürlich warf der Krieg seine Schatten auf unser Leben, doch einige unserer Probleme gingen weiter zurück – bis zu jenem entsetzlichen Frühling vor zwei Jahren.
Nur zwei Jahre. Mir kam es länger vor; oder besser gesagt, es schien, als trennte uns ein dunkler, tiefer Abgrund von den glücklichen Tagen, die der Katastrophe vorausgegangen waren. Zugegeben, sie waren nicht ohne die kriminellen Ablenkungen verlaufen, die unsere archäologische Arbeit gelegentlich unterbrechen, doch daran waren wir gewöhnt, und in jeder anderen Hinsicht hatten wir allen Grund zur Freude. David und Lia hatten gerade geheiratet; Ramses weilte nach einigen Monaten Abwesenheit wieder bei uns; und Nefret teilte ihre Zeit zwischen der Exkavation und der Klinik auf, die sie für die gefallenen Mädchen von Kairo eingerichtet hatte. In jenem Jahr war ein inneres Strahlen von ihr ausgegangen …
Dann war es passiert, so plötzlich und unerwartet wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel. Als Emerson und ich eines Morgens heimkehrten, fanden wir den alten Mann vor, der uns mit einer Frau und einem kleinen Kind erwartete. Die blutjunge Frau war eine Prostituierte, der alte Mann einer der berüchtigtsten Kairoer Zuhälter. Der Anblick des Kindergesichts, dem meinen unverkennbar ähnlich, war ein Schock; ein noch größerer Schock folgte, als das kleine Geschöpf mit ausgestreckten Ärmchen zu Ramses lief und ihn Papa nannte.
Daraufhin war Nefret am Boden zerstört. In der Klinik sah sie tagtäglich die Misshandlungen, denen die Frauen im Rotlichtbezirk ausgesetzt waren, und ihre Versuche, den unglücklichen weiblichen Opfern dieses schändlichen Gewerbes zu helfen, hatten die Dimensionen eines Kreuzzugs angenommen. Stets temperamentvoll und uneinsichtig, zog sie die unvermeidlichen Schlüsse und verließ aus Abscheu vor ihrem Adoptivbruder überstürzt das Haus.
Ich wusste natürlich, dass die scheinbar offensichtlichen Schlüsse nicht zutrafen. Nicht, dass Ramses auf dem Pfad moralischer Rechtschaffenheit nie gestrauchelt wäre. Er war in Probleme hineingetappt, sobald er laufen konnte, und die Liste seiner Verfehlungen wuchs mit zunehmender Reife. Ich hatte keine Zweifel, dass seine Beziehungen zu verschiedenen weiblichen Personen nicht immer dem entsprachen, was ich gutheißen würde. Die Beweislast gegen ihn war eindeutig. Andererseits kannte ich meinen Sohn seit zwanzig nervenaufreibenden Jahren und wusste, dass er dieses Verbrechens nicht fähig gewesen wäre – denn es war ein Verbrechen, im moralischen wie im rechtlichen Sinne.
Es dauerte nicht lange, bis wir die Identität des leiblichen Vaters dieses Kindes herausfanden – meinen Neffen Percy. Ich hatte noch nie eine hohe Meinung von meinen Brüdern und ihren Sprösslingen gehabt; diese Entdeckung und Percys hinterhältiger Versuch, die Sache Ramses unterzuschieben, führten zu einem endgültigen Zerwürfnis. Leider gelang es uns nicht immer, Percy aus dem Weg zu gehen; er
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