Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
versucht, eine Abtreibung durchzuführen.«
»Hast du sie gerettet?«
»Ich denke schon. Diesmal.«
Nefret besaß ein großes Vermögen und ein noch größeres Herz; die kleine Klinik, die sie ursprünglich gegründet hatte, war inzwischen ein Frauenkrankenhaus. Das größte Problem bestand darin, weibliche Ärzte zu finden, da selbstverständlich keine Muslimin, ob ehrbar oder nicht, einem Mann gestattet hätte, sie zu untersuchen.
»Wo war Dr. Sophia?«, erkundigte ich mich.
»Im Krankenhaus, wie immer. Aber ich bin die einzige Chirurgin, Tante Amelia – soweit ich weiß, sogar die einzige Chirurgin in ganz Ägypten. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich lieber nicht darüber sprechen. Du bist an der Reihe. Es ist doch nichts Außergewöhnliches passiert, oder? Irgendwelche Neuigkeiten von Tante Evelyn?«
»Nein. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass sie sich genauso hundsmiserabel fühlen wie wir.« Lachend drückte Nefret meine Hand, und ich fügte hinzu: »Ramses hat heute eine weitere weiße Feder bekommen.«
»Bald hat er genug für ein Kopfkissen«, meinte Ramses’ Adoptivschwester ungerührt. »Aber das ist es sicherlich nicht, was dich beschäftigt. Es ist etwas anderes, Tante Amelia. Erzähl es mir.«
Ihre Augen, blau wie Vergissmeinnicht, fixierten mich. Ich gab mir einen kleinen mentalen Ruck. »Da ist nichts, mein Schatz, wirklich nicht. Aber genug davon! Sollen wir Fatima bitten, uns den Tee zu bringen?«
»Als Erstes muss ich mir den Hals waschen.« Nefret verzog das Gesicht. »Wir können ebenso gut auf den Professor und Ramses warten. Glaubst du, sie werden lange wegbleiben?«
»Ich hoffe nicht. Wir gehen heute Abend zum Essen aus. Ich hätte Emerson daran erinnern sollen, aber eins kam zum anderen, und schließlich habe ich es vergessen.«
»Zwei gesellschaftliche Verpflichtungen an einem Tag?« Nefret grinste. »Er wird toben.«
»Es war sein Vorschlag.«
»Der Professor hat vorgeschlagen, zum Essen auszugehen? Mit wem, wenn ich fragen darf?«
»Mit Mr Thomas Russell, dem stellvertretenden Polizeikommissar.«
»Ah.« Nefret kniff die Augen zusammen. »Dann ist es keine schlichte gesellschaftliche Verpflichtung. Der Professor ist jemandem auf der Spur. Was ist es diesmal? Antiquitätenraub, Fälschungen oder illegaler Handel mit Kunstschätzen? Oder – oh, sag nicht, dass es erneut der Meisterverbrecher ist!«
»Du klingst, als hofftest du das.«
»Ich würde Sethos liebend gern kennen lernen«, murmelte Nefret verträumt. »Tante Amelia, ich weiß, dass er ein Dieb und ein Betrüger und ein Schurke ist, aber du musst zugeben, er ist entsetzlich romantisch. Und seine hoffnungslose Leidenschaft für dich –«
»Das ist mehr als töricht«, erwiderte ich streng. »Ich rechne nicht damit, Sethos jemals wieder zu sehen.«
»Das sagst du jedes Mal – kurz bevor er wie aus dem Nichts auftaucht, gerade noch rechtzeitig, um dich aus irgendeiner grässlichen Gefahr zu retten.«
Sie neckte mich, und mir war klar, dass ich die Bitterkeit verbergen sollte, die die Erwähnung von Sethos stets bei mir hervorrief. Er hatte mir in der Tat in mehreren Situationen geholfen; er bekannte sich dazu, eine tiefe Zuneigung zu meiner Wenigkeit zu empfinden. Er hatte mir seine Aufmerksamkeiten nie aufgedrängt … Nun, fast nie. Tatsache war, dass er über Jahre hinweg unser Intimfeind gewesen war, der den illegalen Antiquitätenhandel überwachte und Museen, Sammler und Archäologen mit unvergleichlichem Geschick ausraubte. Obschon wir seine Pläne gelegentlich vereitelten, muss ich ehrlicherweise zugeben, dass es uns in den meisten Fällen nicht gelang. Ich war ihm mehrmals begegnet, ein Tatbestand, den man wahrheitsgemäß mit ›Tuchfühlung‹ umschreiben könnte, aber nicht einmal ich hätte sein wahres Aussehen zu beschreiben vermocht. Seine Augen waren von einem seltsamen Graubraun, und sein Tarnungsgeschick ermöglichte es ihm, deren Farbe wie auch beinahe jede andere physische Eigenheit zu verändern.
»Um Himmels willen, erwähne ihn nur ja nicht gegenüber Emerson!«, entfuhr es mir. »Du weißt, wie er zu Sethos steht. Es besteht überhaupt kein Anlass zu der Überlegung, dass er sich in Ägypten aufhält.«
»Kairo wimmelt von Spionen«, erwiderte Nefret. Sie beugte sich vor, faltete ihre Hände. Jetzt war sie todernst. »Die Behörden behaupten, dass alle feindlich gesinnten Fremden deportiert oder interniert worden sind, aber die Gefährlichsten unter ihnen, die ausländischen
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