Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
Grabräuber! Ich bringen dich zu ihnen, dann du geben mir Bakschisch!«
Ramses’ zusammengekniffene Lippen verzogen sich zu einem widerwilligen Lächeln. »Du denkst also, sie sitzt in Sayids Haus und trinkt ekelhaft süßen Tee, während er die Hälfte der Dorfbewohner von Gurneh vor ihr aufmarschieren lässt?«
»Jeder von ihnen mit einer noch hanebücheneren Geschichte«, schmunzelte Nefret. »Hör auf zu grübeln, mein Schatz, und lass uns das Abendessen einnehmen. Wenn wir fertig sind und sie ist noch nicht zurück … nun, darüber machen wir uns später Gedanken.«
Der elegante Speiseraum war – obschon Samstag – nur halb gefüllt. Die meisten Gäste waren Amerikaner, vereinzelt ließen sich andere Nationalitäten ausmachen, darunter auch einige englische Offiziere. Luxor war ein beliebtes Ausflugsziel für den archäologisch Interessierten und für diejenigen, die die Tagesroutine in Kairo langweilte. Der Service im Winter Palace war so gut, dass er fast lästig wurde; Kellner, Sommelier und unzählige Handlanger umschwirrten sie.
Ramses gab dem Oberkellner die mit kunstvoll vergoldeten Lettern geschmückte Weinkarte zurück. »Auf der Karte stehen keine deutschen Weine, aber ich bin sicher, Sie haben welche. Ein Riesling wäre angebracht, Jahrgang 1911 oder 12.«
»Du bist mit Absicht so provokativ, oder?«, erkundigte sich Nefret.
»Ja. Ich verabscheue die Politisierung von harmlosen Ideen und Menschen und Dingen.«
Nefret riss ihre Abendtasche gerade noch rechtzeitig an sich, um sie vor einem Schwall Wasser zu bewahren. Einer der Hilfskellner hatte ihr Glas zu rasch oder zu ungeschickt gefüllt. Er handelte sich eine leise gezischte Rüge des Oberkellners ein und huschte davon.
»Verflucht!«, meinte Nefret ungehalten. »Lassen Sie den Burschen in Ruhe, er hat nichts gemacht.«
Als sie eine Stunde später ihr Mahl beendet hatten, fehlte von Margaret immer noch jede Spur. Nefret nahm ihre Handtasche. »Ich werde mich etwas frisch machen«, verkündete sie. »Aber zuerst werde ich am Empfang nach Margaret fragen.«
Sie war nicht beunruhigt – nicht sonderlich jedenfalls – , aber dennoch erleichtert zu erfahren, dass Miss Minton zurückgekehrt und direkt auf ihr Zimmer gegangen war, nachdem sie ihre Mitteilungen in Empfang genommen hatte.
»Sie schien sehr müde«, ereiferte sich der Portier. »Und … äh … überhitzt. Möchten Sie, dass ich in ihrem Zimmer anrufe?«
»Nein, ist schon in Ordnung. Danke.« Die taktvolle Andeutung vermittelte ihr das Bild einer Frau, taumelnd vor Erschöpfung, verschwitzt und schmutzig. Sayid musste sie den ganzen Tag auf Trab gehalten haben. Grinsend ging Nefret weiter.
Mitten in dem mit Marmor ausgekleideten Durchgang zu den Damentoiletten kniete eine Gestalt – eine Frau, schwarz gewandet und verschleiert. Sie wrang ein Tuch in dem neben ihr stehenden Kübel aus und fuhr fort, den Boden zu schrubben. Eine der mit Juwelen und Pelz ausstaffierten »Damen« vor Nefret zog angeekelt ihre Seidenröcke beiseite.
»Man sollte doch erwarten dürfen, dass die Direktion diese schmutzigen Frauenspersonen erst hier duldet, wenn die Gäste sich zurückgezogen haben.«
Die Aufwartefrau bückte sich tiefer und schrubbte noch energischer. Sie mochte die Worte nicht verstanden haben, der herablassende Ton war indes unmissverständlich. Nefret erwiderte: »Einer Ihrer vornehmen Freunde hat sich vermutlich erbrochen. Aber Sie haben ganz Recht; die Direktion hätte die Bescherung liegen lassen sollen. Wäre Ihnen das lieber gewesen?«
Gemurmel und neugierige Blicke trieben die beiden »Damen« schließlich auseinander. Nefret griff in ihre Handtasche und nahm ein paar Münzen heraus.
»Danke, aber ich kann wirklich kein Bakschisch annehmen«, murmelte eine Stimme in ihrer Kniehöhe. Die »Aufwartefrau« stand auf und fasste ihre Hand. »Lass uns von hier verschwinden, sonst werden es noch mehr.«
Drei andere Frauen strebten durch den Gang. Die Aufwartefrau ließ Nefrets Hand los und huschte mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. Nefret stolperte hinter ihr … ihm her. Als sie ihn schließlich einholte, in einer nahe gelegenen Säulennische, hatte er Robe und Schleier abgelegt und hätte ein ganz normaler Hotelgast sein können; in maßgeschneiderte Abendgarderobe gehüllt, gab er mit überheblicher Miene den Blick auf eine Reihe riesiger, vorstehender Zähne frei. Gleichwohl verrieten ihn seine Hände; sie waren ihr zuvor schon aufgefallen, als sie mit der
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