Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
sich Emerson.
»Ja.« Er kniff die Lippen zusammen, doch Emersons stechender Blick zwang ihn zu näheren Ausführungen. »Für die meisten Bewohner von Kairo steht David noch immer in Verdacht, ein fanatischer Nationalist und Anhänger von Wardanis ehemaliger Organisation zu sein. Bei seiner Rückkehr drohen ihm Festnahme und Gefängnis, und das Kriegsministerium würde keinen Finger rühren für seine Freilassung. Dieses Risiko musst du eingehen, wenn du mitspielst im ›Großen Spiel‹.« Letzteres betonte er mit der ihm eigenen Ironie. »Wenn irgendetwas schief geht, bist du austauschbar.«
Nefrets blaue Augen blitzten auf. »Ich bin froh, dass er das erkannt hat. Er hat jetzt andere Verantwortlichkeiten. Lia und das Baby könnten dieses Jahr ohnehin nicht mitkommen. Tante Evelyn und Onkel Walter werden weder ihr erstes Enkelkind noch England verlassen wollen, solange Willy in Frankreich stationiert ist.«
»Nein, gewiss nicht«, bekräftigte ich. Evelyn und Walter hatten schon einen Sohn verloren, Willys Zwillingsbruder, ein schwerer Schlag für uns alle, die wir den Jungen gekannt und gemocht hatten. Bislang hatte Willy Glück gehabt, aber wenn er verwundet würde und zur Genesung nach Hause käme, würde seine Mutter ihn sicherlich pflegen wollen. »Was ist mit Sennia?«
Emerson stöhnte auf. Er vergötterte das kleine Mädchen und hatte sie im Jahr zuvor entsetzlich vermisst, dennoch ließ ihn der Gedanke an die getöteten Kinder auf der Lusitania nicht los.
»Hier ist sie entschieden besser aufgehoben«, räumte Ramses ein.
Nefret wandte den Kopf und musterte ihn. »Dann wirst du derjenige sein, der ihr das erklären muss. Als ich letzte Woche etwas Derartiges nur andeutete, spielte sie verrückt.«
»Es ist ein Jammer, wie ihr Frauen euch von diesem Kind tyrannisieren lasst.« Ramses’ dichte dunkle Brauen zogen sich zusammen. »Sie kann sich sehr gut beherrschen, wenn sie nur will. Sie benutzt ihre Launen lediglich dazu, ihren Kopf durchzusetzen.«
»Dann macht es dir also nichts aus, ihr die Neuigkeit zu überbringen?«, erkundigte sich seine Gattin honigsüß.
»Eher werfe ich mich einem hungrigen Löwen zum Fraß«, meinte Ramses im Brustton der Überzeugung.
Nefret lachte und ich beeilte mich einzuräumen: »Ramses, ich gehe davon aus, dass du mich nicht in dein Pauschalurteil weiblicher Unfähigkeit miteinschließt.«
»Gütiger Himmel, nein! Du bist die Einzige in unserer Familie, die mit Sennia fertig wird. Tut mir Leid, Mutter, es bleibt an dir hängen.«
»Ach du meine Güte«, murmelte ich. »Ich würde gern verzichten.«
Nefret lachte ausgelassen. »Es ist einfach zu komisch, dich und Sennia zu beobachten. Die Ähnlichkeit ist ohnehin verblüffend, aber wenn ihr zwei aus der Haut fahrt, dann kommt ihr mir vor wie eine erwachsene und eine sechsjährige Tante Amelia.«
Obschon Nefret mich für gewöhnlich Mutter nannte, rutschte ihr gelegentlich diese Bezeichnung heraus, die sie über viele Jahre hinweg verwendet hatte. Das machte mir nichts aus. Was mir etwas ausmachte war die – eindeutig von allen Beteiligten vertretene – Ansicht, dass ich Sennia zur Vernunft bringen sollte. Bei mir versuchte sie ihre Tricks nur selten, aber wenn sie etwas in Rage bringen konnte, dann die Drohung, von Ramses getrennt zu werden. Sie liebte uns alle, aber er war ihr Idol – Ziehvater, großer Bruder, Spielgefährte, Retter.
»Na schön«, murmelte ich. »Ich bin es gewohnt, dass man mir alle unangenehmen Aufgaben überlässt. Ich werde morgen mit ihr reden. Oder übermorgen.«
»Oder überübermorgen?«, schlug Ramses vor.
Ich maß ihn strafend und Nefret zwickte ihn – kleine Erinnerungshilfen, dass, wenn er sich weiterhin auf meine Kosten amüsierte, die Sache letztlich auf ihn zurückfallen könnte. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, doch er sagte nur beiläufig: »Danke, Mutter.«
»Hmhm«, murmelte ich. »Dann wäre das also geklärt. Ich werde meine üblichen Listen zusammenstellen und du, Emerson, wirst dich nach einer Schiffspassage erkundigen. Ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass wir heute Abend auswärts dinieren.«
Keiner von uns schätzt formelle Essenseinladungen, und Besuche in London waren in jenen Tagen nicht unbedingt angenehm. Allerdings hatten wir diese Einladung nicht schnöde ablehnen können. Die Cecils gehörten zu den ältesten und berühmtesten englischen Adelsfamilien. Sie hatten ihrem Land als Soldaten und Parlamentarier gedient; der Vater des
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