Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
vermeiden. Ramses reagierte zeitgleich und erhob sich. Er wartete, bis die dunkle Gestalt halb im Zimmer war, bevor er die Stille seinem Elan opferte. Er sprang über die Truhe, packte den ersten Körperteil, dessen er habhaft wurde – er entpuppte sich als ein Bein –, und zog. Er wollte den Burschen nicht verletzen, sondern lediglich sicherstellen, dass dieser nicht entkam. Letzterer Teil des Plans funktionierte. Statt sich zu befreien, ließ der andere Mann den Fensterrahmen los und stürzte sich mit einem Satz auf Ramses.
Ungefähr anderthalb Sekunden später dämmerte es Ramses, dass er sich möglicherweise eines kleinen Beurteilungsfehlers schuldig gemacht hatte. Er lag flach auf dem Rücken, zu Boden gepresst von einem Körper aus Stahl, eine Hand umklammerte sein rechtes Handgelenk. Ramses beschlich das Gefühl, jemand würde ihm sämtliche Knochen brechen.
Der Bursche war 30 Jahre älter als er. Tiefe Entrüstung ließ Ramses seine guten Absichten vergessen. Ruckartig hob er den Kopf und hörte, wie das Nasenbein seines Gegners unangenehm knirschte. Der Griff um sein Handgelenk lockerte sich. Er befreite seine Hand, packte ein Büschel Haare und ein Stück Ärmel, schlang seine Beine um die Schenkel des anderen und streckte den Mann zu Boden.
Ein plötzlicher Lichtstrahl blendete ihn. »Verflucht, Nefret, ich habe dir doch gesagt …«
»Sei still«, zischte seine junge Gattin. »Jetzt ist es genug. Das gilt für euch beide.«
Ramses blickte auf den Mann hinab, dessen erschlafften Körper er umklammerte. Er war nicht bewusstlos, nur vollkommen und unglaublich entspannt. Das Gesicht war ihm unbekannt und im Augenblick irgendwie ungeheuerlich. Sein Bart hatte sich gelöst, und die Masse, die seine Nase verlängert hatte, war zu einem grotesken Klumpen zusammengequetscht, wie die eines Boxers, der zu viele Kämpfe verloren hat. Die Substanz hatte ihn vermutlich vor einem Nasenbeinbruch bewahrt, dennoch sickerte Blut aus seinen Nasenlöchern. Zögernd erhob sich Ramses.
»Das war ein fieser Trick«, sagte sein Onkel bewundernd.
9. Kapitel
Das Eintreffen von Nefrets zweitem Brief machte mich auf ein Problem aufmerksam, das ich natürlich schon in Erwägung gezogen hatte. Nachdem das Essen und mehrere Tassen Kaffee Emerson etwas belebt hatten, reichte ich ihm das, was ich die offizielle oder offenkundige Epistel nennen möchte. Seine Reaktion war nicht die von mir erwartete. Ein ausgesprochen unschöner Fluch entwich seinen Lippen.
Männer!, dachte ich bei mir. Ich sagte es nicht laut heraus, denn ich bin seit vielen Jahren glücklich verheiratet und beabsichtige, es zu bleiben. Impulsiv fragte ich: »Großer Gott, was in diesem Brief könnte dich denn so aufbringen? Tetisheris Grab ist sicher, die Kinder sind wohlauf und offensichtlich sehr glücklich – wenn man zwischen den Zeilen liest, was ich mit Leichtigkeit …«
Eine heftige Auseinandersetzung in der Halle, gefolgt von Gargerys lautem Aufschrei, unterbrach meinen Redefluss. Sennia musste wohl versäumt haben, Horus in ihr Zimmer einzusperren. Der verfluchte Kater war fest entschlossen, sie zur Schule zu begleiten, und da das nicht ratsam gewesen wäre (das werte Lesepublikum wird bemerken, dass ich der Versuchung widerstanden habe, mich des Begriffs »katastrophal« zu bedienen), mussten wir ihn einschließen, bis sie gemeinsam mit Gargery das Haus verlassen hatte. Er und der Kater waren noch nie miteinander ausgekommen, doch die beiderseitige Abneigung hatte sich zu einer offenen Feindschaft entwickelt, seitdem Gargery sich selber zu Sennias Begleiter ernannt hatte. Er hätte es besser wissen müssen, statt den Kater zu packen.
Der Lärm ebbte ab, und ich hörte, wie Sennia Horus mit ihrer hohen, schrillen Kinderstimme ausschimpfte, während sie ihn davontrug. Gargerys Fluchen vernahm ich ebenfalls. Ich nahm keine Notiz davon. Emerson auch nicht; das kam häufiger vor und er hatte sich daran gewöhnt. Inzwischen hatte er sich auch wieder gefasst.
»In welchem Brief? Oh, der Brief. Nichts. Es ist ein … äh … schöner Brief. Ich wünschte, Ramses wäre etwas kommunikativer; keiner von beiden hat uns Einzelheiten von ihren jeweiligen Nachforschungen mitgeteilt.«
»Ramses ist kein begnadeter Briefeschreiber. Ich glaube nicht, dass er uns etwas verschweigt, falls es das ist, was du vermutest.«
Emerson sagte nichts.
»Glaubst du, dass er uns etwas verschweigt?«, bohrte ich.
»Nein, warum zum Teufel sollte ich! Was ist das?«, setzte er
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