Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
war er mit unzähligen Schädeln und Schienbeinen in Berührung gekommen.
»Wo wollt ihr sie hinbringen?«, fragte einer der Männer ehrfürchtig.
Nefret erklärte es ihm. Das Gemälde sei so prachtvoll, dass sie dafür einen neuen, eleganteren Rahmen anfertigen lassen wollten. Abdul Hadi in Luxor sei bekannt für seine Holzschnitzarbeiten; er habe versprochen, das Kunstwerk bis zum folgenden Abend fertig zu stellen.
»Ob er mir das abnimmt?«, fragte Nefret, nachdem sie sich von dem Kunstkritiker verabschiedet hatten. »Abdul Hadi ist der langsamste Handwerker in ganz Ägypten.«
»Nun, ich will verflucht sein, wenn ich mehr als eine Nacht im Hinterzimmer von Hadis Laden zubringen muss.«
Da Ramses die Intelligenz seines Gegners keineswegs unterschätzte, kehrten sie zurück auf die Amelia und blieben bis nach Einbruch der Dunkelheit an Bord. Dann verließen sie das Hausboot durch ihr Schlafzimmerfenster. Einer ihrer Bootsleute hatte das Dinghi in Position gebracht; er half Nefret hinein – Ramses hörte, wie sie über ihr unbequemes Kleid und den Schleier schimpfte –, und sobald Ramses bei ihnen war, stieß er sich ab.
»Ich habe Luxor vermisst.« Nefret rückte dichter an ihn heran. »Es ist so ruhig und die Sterne schimmern so hell wie Kerzen. Willst du nicht deinen Arm um mich legen? Ich bin sehr liebebedürftig.«
»Obwohl Isam uns beobachtet?«
»Es kümmert mich nicht, ob einer zusieht.«
»In Ordnung.«
Das war keine überschwängliche Reaktion, und er merkte, dass sie verstimmt war, aber selbst wenn es seine Art gewesen wäre, seine Zuneigung öffentlich zur Schau zu stellen, so drehten sich seine Gedanken doch ständig um das, was passieren würde – oder könnte. Vielleicht irrten sie sich in allem gewaltig. Irgendwie hoffte er das sogar.
Abdul Hadi hatte ein rückwärtiges Fenster für sie offen stehen lassen. Er hatte ihnen mit überschwänglichen Worten seine Unterstützung und sein Stillschweigen zugesichert, dennoch bezweifelte Ramses, dass er seine Versprechen länger als einen Tag hielt. Das war einer der Gründe, warum er ausdrücklich darauf bestanden hatte, dass das Porträt nur 24 Stunden in seinem Geschäft verbleiben sollte. Die Männer von Luxor waren berüchtigte Klatschmäuler. Wenn in jener Nacht nichts geschah, würden sie ihren Plan aufgeben und es mit einem neuen versuchen müssen.
Nefret war nicht begeistert, als er sie hinter den Vorhang winkte, durch den man den Geschäftsraum betrat, und er selber Stellung neben dem Fenster bezog, hinter einer hölzernen Truhe. (Oder war es ein Sarg? Es sah fast so aus.) Sie wollte bei ihm sein, bereit einzugreifen, wenn es zu einer tätlichen Auseinandersetzung käme. Sein Vorwand, dass ihre Nähe ihn ablenkte, entsprach nur teilweise der Wahrheit. Er hatte sie höflich ersucht, ihre Taschenlampe nicht einzuschalten, bis er sie darum bat. Auch das stimmte sie nicht besonders glücklich.
Flach auf dem Boden hinter der Truhe verharrend – er zog es vor, diese nicht als einen Sarg anzusehen –, richtete er sich auf eine lange Verweildauer ein; er nahm seine Uhr in die Hand und bedeckte sie so, dass die Leuchtziffern vom Fenster her nicht auffielen. Vor Mitternacht rechnete er nicht mit irgendwelchen Aktivitäten, gleichwohl hatte er kaum eine Stunde dort verbracht, als ein leises Geräusch von draußen seine Aufmerksamkeit erregte und ein Schatten das Fenster verdunkelte. Er hätte es wissen müssen. Der Bursche reagierte immer anders als erwartet.
Der Schatten blieb länger als eine Minute reglos stehen – eine recht lange Zeitspanne, wenn man die Sekunden zählt. Wird er es wagen, eine Lichtquelle einzusetzen?, überlegte Ramses. Ich würde es riskieren. Es ist keine gute Taktik, durch ein schmales Fenster in ein dunkles Zimmer einzudringen, ohne sich zu vergewissern, dass im Innern niemand ist, der einen am Kragen packen könnte.
Als das Licht aufflammte, war der Strahl dünn wie ein Bleistiftstrich, gerade hell genug, um die Konturen von Gegenständen auszuleuchten. Ramses wagte nicht, den Kopf zu drehen; er war sich sicher, dass Nefret das Geschehen durch einen Spalt im Vorhang beobachtete, und er hoffte, dass sie den Schatten oder das Licht noch rechtzeitig bemerkt hatte, um diesen zu schließen. Der Lichtkegel wanderte durch den Raum und erlosch und der Schatten regte sich.
Er bewegte sich fast geräuschlos, indes konnte er weder das Schaben des Stoffs gegen das Mauerwerk noch das Ächzen des alten Holzfenstersimses
Weitere Kostenlose Bücher