Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
nicht besonders taktvoll in seinem Bemühen, ihren Avancen zu entgehen. Egoistisch und eitel, machte sie ihn womöglich noch verantwortlich für den Tod ihres Vaters. Aus gutem Grund, dachte er zynisch. Aber war sie intelligent genug, um einen derart komplexen, hinterhältigen Plan auszuhecken und umzusetzen? Er hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war.
Christabel? Die Vorstellung, dass diese ausgemachte Feministin in den durchschimmernden Gewändern der Hathor süße Nichtigkeiten murmelte, war so abwegig, dass er laut lachte. Sie waren nicht eben freundschaftlich auseinander gegangen, und dennoch würde sie sich niemals entblöden, ihm eins auszuwischen. Was war mit … Nefret stand im Türrahmen. Schuldbewusst schrak er zusammen, schnappte sich ein Handtuch und flüchtete. Hatte er wirklich so lange im Bad herumgetrödelt und nachgesonnen über seine … Eroberungen, wie manche sie nannten? Jedenfalls konnte er reinen Gewissens beteuern, dass die meisten von ihnen einseitig und unerwidert geblieben waren. Außer Enid und Layla und ein oder zwei andere … drei oder vier andere … Nein. Es war eine blöde Theorie, und er mochte nicht mehr darüber nachdenken.
Der abendliche Gebetsaufruf der Muezzins erstarb, und es dämmerte bereits, als sie den Pfad zum Schloss nahmen. Selim traf kurz darauf ein, während sie noch aus den Kutschen stiegen. Er sah blendend aus in seinen fließenden Gewändern und auf seinem Lieblingshengst; im rötlichen Schein der Hoflaternen bot er das Bild des romantischen Helden, und das wusste er offenbar auch. Evelyn machte ihm Komplimente, und Lia applaudierte. Selim strahlte.
»Du bist gut in der Zeit, Selim«, rief Ramses.
Selim schwang sich aus dem Sattel und warf die Zügel einem von Cyrus’ Stallburschen zu. »Ich wäre besser noch früher oder etwas später gekommen. Jemand hat auf mich geschossen.«
Entsetzen und Bestürzung wurden laut, vor allem unter den Ankömmlingen. Nachdem er seine Sensation gehabt hatte, meinte Selim wegwerfend: »Ich bin nicht verletzt. Man hat mich nicht getroffen.«
»Vermutlich wieder diese dämlichen Jäger«, sagte Emerson unbeeindruckt. »Sie nutzen die Dämmerung, um Schakale zu schießen. Es sind mehr geworden als früher, Walter, und manch einem sollte man wirklich keine Waffe anvertrauen.«
»Gute Güte«, entrüstete sich sein Bruder. »Ist das nicht gefährlich?«
»Gefährlich nicht, aber lästig. Macht in der Abenddämmerung bloß keine einsamen Spaziergänge in der Nähe vom Tal oder vom Ramesseum.«
»Kommt rein, Leute«, rief Cyrus vom Haus her. »Willkommen! Schön, Sie alle wieder bei uns zu haben!«
Während Cyrus noch Hände schüttelte, nahm Selim Ramses beiseite.
»Man möchte die Frauen ja nicht erschrecken«, begann er im Flüsterton.
»Meine Mutter erschrecken?«
»Die Sitt Hakim fürchtet weder Tod noch Teufel«, versetzte Selim. »Trotzdem sollte man die Polizei über die Jäger informieren, Ramses. Sie werden immer rücksichtsloser.«
Er streckte die Arme aus, zog den Stoff seiner Robe glatt. Die Lichtverhältnisse waren schlecht, dennoch entdeckte Ramses mehrere Löcher. Sobald Selim seine Arme wieder senkte, legte sich das Gewand in weiche, dichte Falten. Eine Kugel. Aber diese hatte Selims Seite gefährlich nah passiert.
»Ich werde mit Vater reden«, versprach Ramses. »Und sei in Zukunft etwas vorsichtiger.«
Die Zusammenkunft war zwanglos; Cyrus, der Emersons Abneigung gegen Abendgarderobe berücksichtigt hatte, trug einen seiner saloppen weißen Leinenanzüge. Bertie ähnelte zunehmend mehr einem kleinen Poeten, mit einem um den Hals geschlungenen Schal und blauem Samtjackett nebst Denkermiene.
Cyrus’ aufgeräumte Stimmung verschwand bald, und sein hageres Gesicht legte sich in kummervolle Falten. Wie von Ramses nicht anders erwartet, schritt seine Mutter energisch ein.
»Also, Cyrus, es wird höchste Zeit, dass Sie diese Sache aus der korrekten Perspektive sehen«, krittelte sie, schwungvoll ein Brötchen mit Butter bestreichend. »Sie ist doch wirklich nicht so dramatisch!«
»Nicht dramatisch!«, krächzte Cyrus. »Aber ich …«
»Die Sammlung besteht aus hunderten von Objekten, Cyrus, darunter weitere Armbänder und Brustplatten. Nach einem einzigen Besuch kann sich Monsieur Lacau gar nicht mehr an jedes einzelne Stück erinnern. Sein Wort würde gegen unseres stehen.«
Sie klang so überzeugend, dass es für Augenblicke absolut einleuchtend schien. Emerson starrte seine Frau nur an.
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