Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
fing sie noch einmal an.
»Ich wusste, ihr würdet hingehen«, beteuerte Emerson mir gegenüber.
»Nein, das wusstest du nicht.«
»Ich hab dir einen Whisky-Soda bestellt, Vater«, sagte Ramses in dem vergeblichen Bemühen, Emerson abzulenken. »Ich hoffe, es ist in deinem Sinne.«
»Danke, mein Junge. Doch, werte Amelia. Und«, fuhr Emerson triumphierend fort, »ich werde dir auch sagen, woher ich es wusste. Wir haben Daoud getroffen, auf dem Weg zu seinem Cousin, und …«
»Er oder einer seiner geschwätzigen Freunde hat beobachtet, dass wir zur Isis strebten«, schloss ich für ihn.
»Daoud ist eine bessere Nachrichtenquelle als jede Tageszeitung! Inzwischen weiß ganz Luxor, wo wir gewesen sind und wo wir jede Minute des restlichen Abends verbringen!«
»Was ist daran so schlimm?«, fragte David.
Wir sollten es bald erfahren.
Wir genossen einen schönen Abend in angenehmer Atmosphäre und begrüßten alte Bekannte. Um kurz vor zehn erinnerte ich daran, dass wir Daoud um ebendiese Uhrzeit treffen wollten. Er besaß keine Uhr, wusste die Zeit aber exakt nach dem Stand der Gestirne zu bestimmen (oder indem er andere Leute fragte), und er war absolut pünktlich. Er lief uns entgegen, sobald wir das Dock erreichten. Mehrere andere Schiffe schaukelten auf dem Wasser, bis auf uns war es jedoch menschenleer. Die Nachtluft war kühl, es wehte ein ziemlich starker Wind. Nachdem wir uns ins Boot gesetzt hatten, zog Daoud den Landungssteg ein, besser gesagt eine lange, schmale Plan ke.
Es war eine herrliche Nacht für eine Segelpartie. Der fast volle Mond zauberte silbrige Reflexe auf das Wasser, die Sterne leuchteten hell. Wir waren einige hundert Meter vom Ufer entfernt, als ich eine unangenehme Kühle an meinen Fußsohlen spürte. Bevor ich etwas äußern konnte, drang die Kälte bis zu meinen Knöcheln vor.
»Gute Güte«, erregte ich mich. »Ich glaube, wir haben ein Leck.«
»Ich glaube, du hast Recht«, sagte Emerson seelenruhig, während das Wasser unsere Waden umspülte. Die anderen hoben kreischend die Füße hoch, und Daoud, der mit Segel und Mastbaum beschäftigt gewesen war, stieß einen lauten Schrei aus.
»Das ist nicht möglich! Das Schiff ist seetüchtig!« Obschon es das eindeutig nicht mehr war, widersprach ihm niemand. Ramses bückte sich und hob die durchnässten Teppiche hoch. Er fand die Ursache auf Anhieb und tat lautstark seine Entdeckung kund.
»In den Boden sind drei Löcher gefräst. Daoud, dreh sofort um, wir schaffen es niemals bis ans andere Ufer.
Nefret, gib mir deinen Schal.«
»Zwecklos«, sagte Emerson knapp. Er kniete, tastete mit seinen Händen durch das rasch eindringende Wasser. »Die Löcher haben einen Durchmesser von mindestens drei Zentimetern. Müssen mit irgendeiner Substanz präpariert gewesen sein, die sich allmählich gelöst hat oder von den Wellen herausgespült worden ist.«
David hatte sich zu Daoud gesellt und half ihm mit dem Segel, doch das Boot schlingerte gewaltig. Es war offenkundig, dass wir noch vor Erreichen des Ufers sinken würden. Emerson zog Jackett und Weste aus. Ramses hatte dies bereits getan. Er befestigte die lange, schwere Planke am Schiffsrumpf und ließ sich ins Wasser gleiten.
»Nefret!«, rief er.
Sie folgte ihm ohne zu zögern. Das Wasser hatte die Sitze erreicht und stieg weiter. »Gib’s auf, David«, brüllte Emerson. »Hilf mir mit den anderen.«
Er wandte sich zu mir. Ich wusste, dass ich die langen, hinderlichen Röcke würde ausziehen müssen, hatte aber Schwierigkeiten mit den Knöpfen, weil meine Hände zitterten. Ich bin wahrlich keine geübte Schwimmerin. Doch ich hatte keine Angst um mich, weil mein geliebter Emerson bei mir war. Er schwimmt wie ein Fisch, genau wie Ramses und David. Gleichwohl machten mir die anderen, vor allem Evelyn und Walter, Sorgen. Walter nahm umsichtig seine Brille ab und steckte sie in seine Jackentasche, Evelyn schälte sich aus ihrer violetten Abendrobe und Lia kroch über die Sitzbank zu ihrer Mutter. Ich dankte Gott, dass die Kinder nicht bei uns waren. Während ich noch an meinen Knöpfen nestelte, bekam Emerson meinen Ausschnitt zu fassen, riss das Kleid herunter, hob mich hoch und warf mich über die Reling. Ich kam spuckend an die Wasseroberfläche, unterstützt von den starken Armen meines Sohnes, und sah, dass die anderen ebenfalls über Bord gegangen waren. Emerson umklammerte mit je einem Arm seinen Bruder und seine Schwägerin und schob sie zu der Planke, an der Nefret hing.
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