Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
David hatte Lia im Schlepptau. Ich schob mir die nassen Haare aus den Augen und machte eine rasche Bestandsaufnahme. Ja, alle waren da und bislang unver sehrt. Alle bis auf …
Eine Woge des Entsetzens durchzuckte meinen Körper.
Wie ein dunkler Schatten in den silbergekräuselten Wellen sank das Boot und mit ihm Daoud, der hoch aufgerichtet im Bug saß. Das Letzte, was ich von ihm sah, war sein gefasstes Gesicht, die Augen geweitet und der Mund fest geschlossen, während das Wasser stieg und über ihm zusammenschwappte. Erst da fiel mir ein, dass er nicht schwimmen konnte.
6. Kapitel
»Daoud!«, schrie ich. »Rettet ihn! Beeilt euch!«
Ich hatte jedenfalls vor, das zu schreien. Unseligerweise wusch eine Welle über meinen Kopf hinweg, was längeres Gurgeln und Prusten nach sich zog. Mit einer Hand die Planke umklammernd, blinzelte ich das Wasser aus meinen Augen und sah noch, wie Ramses’ Füße unter der Wasseroberfläche verschwanden. Mein Hinweis war überflüssig gewesen; sobald er mich in Sicherheit wähnte, kümmerte er sich um Daouds Rettung.
»Halt dich fest, Peabody!«, gellte Emerson direkt in mein linkes Ohr. »Und lass um Gottes willen den Mund zu!«
Er stemmte mich hoch, bis meine Arme auf der rauen Plankenoberfläche lehnten, dann tauchte er ebenfalls nach Daoud.
Wir anderen schaukelten auf der Gangway hin und her – wie die Hühner auf der Stange. Mit einem Anflug von patriotischem Stolz gewahrte ich, dass die klatschnassen Gesichter der anderen so ungerührt waren, als wäre nichts geschehen.
Dann fiel mein Blick auf etwas Essenzielleres. Es war Daouds Kopf, die Augen weiterhin offen, der Mund geschlossen, tauchte er an der Wasseroberfläche auf. Als Nächstes kamen seine weit ausgebreiteten Arme zum Vorschein. Emerson und Ramses hatten ihn in ihre Mitte genommen.
Daoud blinzelte, schaute sich um und öffnete vorsichtig den Mund. »Und was soll ich jetzt machen?«, erkundigte er sich.
Nach Anbrach der Dunkelheit wird es ruhiger am Fluss, bis auf den einen oder anderen Touristen, der noch eine mondbeschienene Segelpartie unternehmen möchte. Offenbar hatte an besagtem Abend niemand derart romantische Neigungen; und so nahm Ramses nach kurzer Diskussion Kurs auf das Ufer. Wir anderen strampelten heftig, um Unterkühlung und Krämpfen vorzubeugen, und David hielt uns bei Laune, indem er Daoud den ersten Schwimmunterricht erteilte. Daouds Vertrauen in uns war grenzenlos; er befolgte Davids Anweisungen und stellte begeistert fest, dass seine hünenhafte Statur beinahe schwerelos dahinglitt. Ich werde mich noch lange daran erinnern, wie er da auf dem Rücken lag, einzig die Zehen und das grinsende Gesicht aus dem Wasser ragend, sein Gewand um ihn ausgebreitet wie die Schwingen eines Pelikans.
So kurzweilig das alles war, ich atmete trotzdem auf, als ich endlich ein Licht gewahrte und das Brüllen einiger Männer, die Ramses in ihrem Boot aufgeweckt hatte. Sie nahmen uns an Bord und brachten uns rasch ans Westufer, wo unsere Kutschen auf uns warteten. Daoud wollte nicht mitfahren – und es wäre auch extrem eng geworden, denn er brauchte Platz für zwei. Er trollte sich stillvergnügt, seine nassen Rockschöße flatterten im Wind, und sein sonst so makelloser Turban erinnerte an einen zermatschten Blumenkohl. Gleich nach unserer Ankunft steckten Fatima und ich Evelyn in ein heißes Bad und dann ins Bett.
»Wird sie das unbeschadet überstehen?« Besorgt beugte Walter sich über sie. Sie lächelte ihn schläfrig an, ihr fielen fast die Augen zu.
»Sie ist unterkühlt und erschöpft, aber sie wird wohl keinen bleibenden Schaden nehmen«, erwiderte ich. »Du gehörst ebenfalls ins Bett, Walter.«
»Während ihr anderen Kriegsrat haltet?« Er hatte sich abgetrocknet, die Brille wieder aufgesetzt, und seine Augen leuchteten. »Gütiger Himmel, Amelia, wer kann denn nach einem solchen Abenteuer schlafen? Ich möchte reden, möchte zuhören. Ich möchte – verflixt noch mal – einen Whisky-Soda!«
»Und etwas zu essen«, sagte Fatima entschieden. »Im Vorratskeller sind kaltes Hühnchen, Konafa, Fladenbrot und Salat …«
»In Ordnung, Fatima, aber dann gesellst du dich zu uns. Und weck Gargery nicht auf, ich bin heute Nacht keinesfalls erpicht darauf, mir seine Zurechtweisungen anzuhören.«
Fatima hatte die Angewohnheit, uns zu jeder Tages- und Nachtzeit zu bewirten, aber in diesem Fall bestand ihr vorrangiges Motiv darin, als Erste von unserer neuesten Eskapade zu erfahren, um Gargery dann
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