Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Emerson. »Unsere Magie. Ihr seid – ihr habt … Zum Teufel mit dieser vermaledeiten Sprache. Peabody, sag ihm, dass das Ding völlig harmlos ist.«
Der junge Mann war kein Feigling. Faszination besiegte Furcht, und als er sich schließlich entschloss, hindurchzuschauen, murmelte er: »Man kann damit in die Ferne sehen. Wie weit?«
»Viele Kilometer weit«, erwiderte ich. »Bis zum Himmel und in weite Fernen. Aber nur, wenn man sich mit der Magie auskennt. Sonst ist es zu gefährlich.«
Wir plauderten noch ein Weilchen mit ihnen und beantworteten die Fragen der braven Seelen. Sie vergaßen jede Disziplin und scharten sich um Emerson, der sich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung sonnte. So verblüffte es mich nicht im Geringsten, als jemand ihn auf die blutige Geschichte mit dem gezielten Speerwurf ansprach. Grinsend streckte der Vater der Flüche die Hand aus. Hastig reichten die Burschen ihm einen Speer.
»Emerson«, erregte ich mich. »Du willst doch wohl nicht –«
»Für wen hältst du mich, meine Liebe? Ich könnte den Wurf ohnehin nicht wiederholen«, räumte er ein. »Seinerzeit war ich nämlich stinkwütend.«
Er riss den Arm nach hinten, spannte Schenkel- und Schultermuskulatur an. Dann nahm er einen tiefen Atemzug, worauf sich zwei Knöpfe mit leisem Plopp von seinem Hemd verabschiedeten, und warf den Speer. Er flog geradewegs über die Schlucht und traf auf der anderen Seite der Straße auf.
Sekundenlang andächtige Stille, nicht einmal das Geräusch eines Atemzugs. Dann brüllten alle auf einmal.
»Uffz«, seufzte Emerson.
»Hoffentlich hast du dir dabei nicht wieder die Schulter gezerrt«, zeterte ich. »Emerson, ich weiß, du amüsierst dich köstlich, aber wir müssen zurück. Ich möchte Zekare keinen Grund liefern, dass er seine Besuchserlaubnis bei Nefret im letzten Augenblick noch zurücknimmt.«
Die anderen erwarteten uns schon im Haus und wir begannen unverzüglich damit, unsere Notizen zu vergleichen. »Die einzige Möglichkeit, um ins Tal und zu den Hütten auf unserer Passseite zu kommen, ist eine Treppe auf der Westseite«, bemerkte Emerson. »Sehr schmal und steil. Leicht zu verteidigen.«
»Ich weiß, mein Schatz.« Ich klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter.
»Zum Palast und zu der protzigen Allee führen aber noch andere Treppen«, warf Ramses ein. »In der Nähe des Dorfes.«
»Das gleiche Problem.« Emerson blickte stirnrunzelnd auf ein Blatt Papier mit einer Planskizze. »Ein Übergriff an einem dieser Punkte ist unmöglich.«
»Bestimmt weiß Tarek das.« Ramses schob das Papier beiseite. »Tut mir Leid, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Du solltest Nefret doch heute Abend sehen, Mutter. Wieso zum Teufel hat dich noch niemand abgeholt?«
»Sie haben keine Uhrzeit genannt. Mein lieber Junge, mach dir keine Sorgen. Bislang sehe ich keinerlei Veranlassung, an den Zusagen des Königs zu zweifeln. Da – ich glaube, die Eskorte ist im Anmarsch.«
Aus Manuskript H
»Ja, ich habe sie gesehen.« Seine Mutter war nicht mal eine Stunde fort gewesen. Übertrieben behutsam legte sie den Schirm zu Boden. »Emerson, wenn ich ein Schlückchen Whisky haben könnte.«
Der Professor erstarrte. »Um Himmels willen, Amelia, sie ist doch nicht … sie kann nicht –«
»Nein, nein Emerson. Kein Grund zur Beunruhigung. Danke, Ramses.« Sie nahm einen ordentlichen Schluck Whisky. »Es könnte schlimmer sein. Viel schlimmer. Ich erzähle euch ja alles, aber vorher muss ich meine Eindrücke sortieren.«
»Spar dir den Unfug und red Tacheles«, brummte Emerson wieder zuversichtlicher.
Ramses, der seine Mutter selten so aufgelöst erlebt hatte, lenkte ein: »Lass dir Zeit, Mutter.«
»Ich hatte eigentlich erwartet, in die Gemächer der Hohepriesterin geführt zu werden. Stattdessen brachten sie mich zu einem kleinen Tempel südlich vom Palast. Nicht zum Großen Tempel. Aber auch hier hat die Göttin einen Schrein, der allein ihr geweiht ist. Wir wohnten dem üblichen Ritual bei: Die Dienerinnen wiegten sich im Tanz um die Hohepriesterin, die in ihrer golddurchwirkten Robe die Anrufung vornahm. Sie opferte Früchte und Blumen vor der bezaubernden Statue und glitt dann, umringt von ihren Zofen, hinaus. Ich versuchte mich an ihre Fersen zu heften, doch meine beiden drahtigen Begleiterinnen hielten mich höflich, aber bestimmt davon ab. Jeder Widerstand war zwecklos, sie drückten mich in die Sänfte und brachten mich zurück.«
Sie nippte an ihrem Whisky und Ramses sagte
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