Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
wollte ich wissen.
»Ihr müsst die Wachen ablenken, während ich mich an ihnen vorbeischmuggle«, gab Ramses lakonisch zurück.
»Das schaff ich mit links«, meinte Emerson und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Und dann?«
»Dann mache ich mich auf die Suche nach dem von Mutter erwähnten Tempel. Gut möglich, dass sich der Wohnbereich der Hohepriesterin daran anschließt. Wenn ich den Eingang nicht finde, probiere ich etwas anderes aus: die unterirdischen Gänge hinter dem Haus, das wir damals bewohnten. Es steht leer und ich kann den Zugang lokalisieren. Wenn ich die unterirdische Kammer finde, wo wir Nefret das erste Mal begegneten, dann gibt es von dort aus bestimmt einen Weg in ihre Räumlichkeiten.«
»Zu viele Unwägbarkeiten«, warnte ich. »Gute Güte, Ramses, dein Plan ist extrem riskant. Nefrets Wohnräume sind sicher streng bewacht. Bei dem Versuch, in den Tempel vorzudringen, wird man dich schnappen oder kurzerhand umbringen. Und die Sache mit den unterirdischen Gängen verbiete ich dir ganz rigoros. Was ist, wenn du dich in dem endlosen Gewirr von Passagen verirrst? Und wie willst du überhaupt wieder zu uns gelangen?«
»Ich habe nicht vor zurückzukehren.« Als er meine Bestürzung bemerkte, hockte er sich neben mich und fasste meine Hände. »Mutter, du bist doch Realistin, oder? Dann stell dich den Tatsachen. Einer von uns muss das Risiko eingehen. Wir sind hier eingesperrt und werden auf Schritt und Tritt bewacht. Demnach ist es völlig ungewiss, ob wir Nefret wiedersehen oder jemals mit Tarek in Kontakt treten. Und was ist mit deinem mysteriösen Besucher, dem jetzt ein Hemdenknopf fehlt? Wir müssen herausfinden, wer er ist und welche Rolle er hier spielt. Vielleicht bekomme ich den Burschen ja irgendwie zu fassen.«
Emerson räusperte sich geräuschvoll. »Argumentier nicht mit ihm, Peabody. Er hat Recht. Allerdings will das alles sorgfältig geplant sein.«
»Ja, Sir.« Ramses drückte meine schlaff herabhängenden Hände und erhob sich. »Wir einigen uns auf morgen Nacht. Mutter, schau mich nicht so betreten an. Es ist bei weitem nicht so riskant, wie du meinst. Schlimmstenfalls schnappen sie mich und sperren mich ein. Der König fällt euch dann sicher nicht vor lauter Freude um den Hals, aber er lässt mich auch nicht foltern oder gleich umbringen, sofern er mit uns kooperieren will.«
»Inschallah«, murmelte ich.
»Ja, es liegt in Seiner Hand«, bemerkte Daoud. »Ich begleite dich, Ramses.«
»Ich auch«, bekräftigte Selim.
Nach einigem Hin und Her überzeugten wir die beiden, dass ihre Begleitung ein zusätzliches Sicherheitsrisiko für Ramses darstellte. Daoud tröstete sich damit, dass er Emerson bei der »Ablenkung« der Wachen unterstützen sollte. Ich begann mit einer meiner kleinen Listen. Wahrscheinlich, so redete ich mir zu, regte ich mich nur unnötig auf. Wenn ich das Ganze erst einmal überschlafen hätte, tauchte womöglich ein strahlender Silberstreif am Horizont auf.
Es war Merasen, der am nächsten Morgen strahlend bei uns auftauchte.
Wir hatten eben das Frühstück beendet und machten Pläne für eine weitere Exkursion, als er so selbstverständlich wie bei seinem Besuch in Kent hereinspazierte, mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, vom Kopfputz bis zu den goldbestickten Sandalen. Unter blumigen Begrüßungsfloskeln schüttelte er Ramses und Emerson die Hand – die das mit einer Miene über sich ergehen ließen, als hielten sie einen stinkenden Fisch umklammert.
»Dann seid ihr also zufrieden mit der Unterkunft?«, erkundigte er sich höflich. »Fehlt euch noch irgendetwas?«
»Und ob«, antwortete Ramses, bevor sein Vater lospoltern konnte. »Geradlinigkeit, Merasen. Sagt Euch dieser Begriff etwas?«
»Ja, den habe ich in England öfters gehört«, räumte Merasen grinsend ein. Er fischte sich eine Dattel aus dem Obstkorb.
»Hat aber offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterlassen«, grummelte der Professor. »Wir haben Euch als geschätzten Gast bei uns aufgenommen und Ihr habt uns belogen und betrogen. Ihr habt Tarek hintergangen. Euer Englisch habt Ihr doch bestimmt von ihm gelernt, oder?«
»Ich gehörte zu den Jugendlichen im Palast, die Unterricht bekamen«, gestand Merasen. »Tarek mochte mich, weil ich eine schnelle Auffassungsgabe hatte. Im Gegensatz zu manch anderem. Meine Brüder …« Er lachte und zuckte mit den Schultern. »Ihr habt sie kennen gelernt. Gute, brave Soldaten, aber strohdumm. Neben den Legenden von den Gottheiten
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