Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
begann er mit einer groben Skizze der Umgebung – keine einfache Aufgabe, da die Stadt des Heiligen Berges ungemein zerklüftet war. Der felsige Grund war auf unterschiedliche Höhen abgetragen worden, um darauf Tempel und Häuser zu errichten. Es war ein Monumentalwerk gewesen, das Jahrhunderte in Anspruch genommen haben musste – fast dreißig –, denn die ersten Emigranten waren im zehnten Jahrhundert vor Christus eingewandert, während der gesellschaftlichen Umbrüche in Ägypten. Wege und Treppen überwanden die Höhenunterschiede, viele mündeten in die breite, in das Gestein getriebene Allee, die mithilfe architektonisch ausgetüftelter Pfeilerkonstruktionen auch die kleineren Schluchten überbrückte. Sie befanden sich oberhalb des Tals, wo sie bei ihrem ersten Besuch logiert hatten; Ramses entdeckte ein ihm bekanntes Gebäude. Wenn es ihm gelang, in ebendieses Haus zu kommen, wüsste er einen Weg, um in die unterirdischen Gewölbe vorzudringen, die den Berg aushöhlten.
»Das dachte ich mir«, sagte Emerson selbstzufrieden. »Diese Gegend ist nur ein Teil der Region, die von den Berggipfeln eingekesselt wird. Das Tal erstreckt sich weiter nach Norden. Kannst du irgendwas erkennen, Ramses?«
»Nicht viel, die Sonne blendet mich.« Ramses beschattete mit einer Hand die Augen. »Die Felsen umschließen das Gebiet, um sich dann wieder zu öffnen. Es ist zu weitläufig, um Details auszumachen; da sind ein See und ein Streifen Grün hinter dem Pass und irgendwelche Seitentäler oder breite Schluchten. Siedlungen sehe ich keine.«
»Die sind vermutlich auf dieser Seite«, meinte Emerson. »Um den Königspalast und den Tempel gruppiert. Meinst du, Tarek hält sich irgendwo da draußen versteckt? Rein rhetorische Frage«, setzte er rasch hinzu, bevor Ramses antworten konnte. »Wir müssen uns das einmal näher ansehen, mit dem Feldstecher.«
Selim bot an, die Ferngläser für sie zu holen. Auf Emersons Anweisung gab er Ramses eins, der vorschlug, noch ein Stück weiter zu schlendern.
Breite, steile Stufen führten zu der Allee hinunter. Vier Wächter kletterten hektisch vor dem Professor her; die anderen vier blieben hinter ihren Anbefohlenen. Als sie den Fuß der Treppe erreichten, fragte Emerson: »Und nun, Peabody, rechts oder links? Oder sollen wir mal probieren, ob sie uns nach unten ins Dorf vorlassen?«
»Links« lautete die Antwort. »Wir waren noch nie nördlich des Großen Tempels und«, setzte sie schmunzelnd hinzu, »den möchte Selim so gern mal sehen.«
Es war die wärmste Tageszeit und vernünftige Menschen zogen sich in den Schatten zurück. Nur wenige Leute waren auf den Beinen. Eine Gruppe kleiner Rekkit besserte die Straße rechts von der Treppe aus. Die schuften selbst noch in der größten Hitze, sinnierte Ramses. Die Straßendecke muss sicher ständig überprüft werden, damit die Sänftenträger nicht stolpern und ihre hohen Herrschaften empfindlich durchrütteln.
Emerson blieb abrupt stehen und brüllte ihnen etwas zu. Die Arbeiter ließen Hammer und Meißel fallen. Als sie den Professor erkannten, senkten sie die Köpfe, leises Gemurmel erhob sich.
Ramses realisierte, dass sein Vater zu einer Rede ansetzte, und sagte schnell: »Wir gehen besser weiter, Sir. Es gefällt mir gar nicht, wie unsere Bewacher die Speere halten.«
»Ich dachte, ich könnte ein paar Worte mit ihnen wechseln«, maulte Emerson. »Und vielleicht die eine oder andere Frage loswerden –«
»Wir wollen doch keinen Ärger machen, Sir. Noch nicht.« Er sah die aufsässige Miene seines Vaters und wandte sich an die ultimative Autorität. »Was meinst du, Mutter?«
Seine Mutter betupfte sich Stirn und Wangen mit einem Leinentüchlein. »Selbstverständlich. Komm weiter, Emerson. Der König kann uns nicht verbieten, zu den Arbeitern zu gehen, aber eine längere Unterhaltung würde womöglich eine Strafe für sie und Restriktionen für uns nach sich ziehen.«
Sie nahm seinen Arm und zog den Professor weiter. Das leise Murmeln folgte ihnen. Es waren nur zwei Wörter, die ständig wiederholt wurden. »Die Freunde. Die Freunde.«
Der königliche Palast erstreckte sich über mehrere Anhöhen, eine weitläufig verzweigte Anlage, in Tausenden von Jahren ständig gewachsen. Unmöglich, von außen einen Eindruck von der architektonischen Gestaltung zu bekommen, da die Gebäude bis weit in die Felsen hineinreichten. Ihre Räumlichkeiten befanden sich am südlichen Ende. Die zentrale Residenz, die man über eine von
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