Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
auf dem Sofa. »Wir haben die Landkarte. Karten , um genau zu sein. War eine gute Idee von dir, Mutter, das mit der Kopie für jeden von uns.«
»Gute Güte, du willst Merasen doch nicht im Stich lassen, oder?«, erregte sich Nefret. »Vielleicht ist er krank – verletzt – oder er hat sich verirrt.«
»Ohne uns findet er den Rückweg nicht«, brummte Emerson stirnrunzelnd. »Den Nil ohne Karte zu finden, ist eine Sache, aber eine abgeschiedene Oase mitten in der Wüste –«
»Der taucht schon noch auf«, sagte ich entschieden. »Eine Nachricht kommt gelegentlich auch abhanden. Wenn wir bis zu unserer Ankunft in Halfa nichts von ihm hören, werde ich – äh – etwas unternehmen.« Offen gestanden war ich mir unschlüssig, wie ich vorgehen sollte, ohne die Polizei einzuschalten oder Emersons schwatzhaftes ägyptisches Informantennetz anzuzapfen.
Nefret drehte sich vom Spiegel weg. »Ramses, wenn du mitkommen willst, dann zieh bitte was Vernünftiges an. Ich möchte einen guten Eindruck hinterlassen.«
»Du bist eindrucksvoll genug; da muss ich nicht auch noch mit Schlips und Kragen aufkreuzen«, konterte Ramses.
»Bitte, ja?« Sie kniete sich vor ihn, schenkte ihm ihr Grübchenlächeln und klimperte mit den Wimpern.
»Also gut, überredet«, seufzte Ramses. »Bin in einer Minute wieder da.«
Als er zurückkehrte, trug er einen neuen Tuchanzug, den ich ihm in England gekauft hatte, einen steif gestärkten Kragen und einen eleganten Strohhut. »Geht das so?«, erkundigte er sich.
Nefret musterte ihn kritisch. Ihre Mundwinkel zuckten. »Du siehst grotesk aus.«
»Das ist die neueste Mode«, protestierte Ramses.
»Ich weiß. Aber irgendwie passt sie nicht zu dir.« Sie riss ihm den Hut herunter und zauste ihm die dunklen Locken. »Schon besser.«
»Danke. Kann ich nicht auch noch den Kragen ablegen? Der bringt mich nämlich um.«
Nefret schüttelte lachend den Kopf. »Trotzdem weiß ich deine Mühen zu schätzen, mein Lieber. Was du meinetwegen alles aushalten musst!«
»Da machst du dir gar keine Vorstellung«, versetzte Ramses dumpf.
Aus Manuskript H
»Die Dame wohnt nicht gerade im feinsten Viertel«, bemerkte Ramses, als Nefret ihn immer tiefer in die Gassen der Altstadt führte.
»Etwas Besseres kann sie sich nicht leisten«, lautete Nefrets Antwort. »Und die Gegend ist durchaus akzeptabel. Ich begreife wirklich nicht, wieso du und Selim mich unbedingt begleiten müsst.«
Sie spähte über ihre Schulter zu Selim. Die Straße war zu schmal für drei, zumal ihnen Esel und Kamele den Weg streitig machten. Sie hat Recht, dachte Ramses im Stillen. Anders als die berüchtigten Rotlichtbezirke war dieser Teil von Kairo relativ sicher; er war nur eben ärmlich und übervölkert und schmutzig. Jeder Winkel war zugebaut, die alten ein- bis zweigeschossigen Häuser reihten sich zu beiden Seiten nahtlos aneinander. Es gab weder Müllentsorgung noch -verbrennung, folglich warf man einfach alles auf die Straße, bis der nächste Regen das Gröbste wegschwemmte. Der Gestank von Esel- und Kameldung vermischte sich mit dem herbsüßen Geruch fauliger Früchte. Die Röcke angehoben, schlängelte sich Nefret im Zickzackkurs an den Unrathaufen vorbei. Sie hatte seinen Arm abgeschüttelt und er blieb ein Stück hinter ihr, so dass er sie heimlich beobachten konnte: ihren Gang, den leicht geneigten Kopf, den goldblonden Haarknoten in ihrem schwanengleichen Nacken.
Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn warnte – aus dem Augenwinkel gewahrte er eine blitzartige Bewegung, das flüchtige Auftauchen eines Gesichts. Er versetzte Nefret einen kräftigen Stoß, drehte sich zur Seite, allerdings nicht schnell genug, um einen gezielten Hieb auf seinen Arm zu vereiteln, den er schützend vor den Kopf hielt. Als er im selben Augenblick herumschnellte, gewahrte er den geduckten Jungen, der ihn fixierte, seine milchweißen Zähne entblößt. Die Waffe in seiner Hand glänzte bedrohlich und war erheblich länger als ein typisch arabisches Messer.
Passanten wichen zurück, um den Widersachern Platz zu machen. Selim zwängte sich an einem schwer beladenen Esel vorbei und schloss zu Nefret auf, die von den Menschenmassen an eine Hauswand gequetscht wurde. Immerhin hatte sie noch den Nerv zu fluchen.
»Komm ihm nicht ins Gehege«, warnte Selim und packte sie.
Merasens Grinsen wurde breiter. »Ich geb Euch Zeit, damit Ihr Euer Messer herausholen könnt.«
»Ich brauche kein Messer«, knurrte Ramses. Ein gezielter Tritt
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