Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
erfuhr. Der Gezira nahm aber auch andere Ausländer sowie Ägypter der »Oberschicht« auf und Ramses wusste, dass sein zweifellos aus gehobenen Kreisen stammender Freund dort Golf oder Tennis spielte und den Nachmittagstee einnahm, wenn er sich in Kairo aufhielt – lieb gewordene Gewohnheiten aus vergangenen Oxford-Zeiten.
Er war nicht auf der Terrasse, als Ramses eintraf, worauf dieser sich an einen Tisch setzte und die Umgebung inspizierte. Es war fast wie auf einem englischen Landsitz, der Rasen smaragdgrün, die Blumenbeete voll blühender Rosen und Zinnien, Petunien und Margeriten. Eine gemischte Gruppe spielte Krocket, die Herren unkonventionell hemdsärmelig und mit Hosenträgern, die Damen in langen, weißen Kleidern mit fest geschnürten Miedern. Ramses fragte sich, wie sie überhaupt gehen konnten, geschweige denn einen Krocketschläger schwingen. Dennoch waren die Frauen weitaus agiler als die Männer. Mädchenhaftes Gekreische erhob sich; offenbar musste die weibliche Mannschaft bei jedem Schlag albern kichern. Nefrets Lachen klang dagegen melodisch unbefangen, und wenn sie ein Ziel verfehlte, lachte sie nicht, sondern fluchte.
Irgendwann strebte Feisal auf die Terrasse. Prinz Feisal, um präzise zu sein, denn sein Vater war Scheich Bahsur, der ehrenwerte und einflussreiche Führer eines bedeutenden Beduinenstammes und ein alter Freund Emersons.
Die Familie schmunzelte über Emersons »alte Freunde«, lebten sie doch überall am Nil verstreut, von Kairo bis Khartum. Nachdem Ramses einige der weniger achtbaren kennen gelernt hatte, fragte er sich, was für ein ausschweifendes Junggesellendasein sein Vater geführt haben musste. Emerson sprach nicht gern darüber – jedenfalls nicht im Beisein seiner Familie.
Feisal, ein gutaussehender junger Mann mit kantigem Gesicht, trug erlesene, europäische Kleidung. Er hatte einen Tennisschläger bei sich und begrüßte Ramses ehrlich erfreut.
»Hab schon gehört, dass ihr wieder hier seid«, bemerkte er. »Wie geht es dem geschätzten Vater und der ehrenwerten Mutter und deiner bezaubernden Schwester?«
Nachdem die formelle Begrüßung beendet war, bestellten sie Tee. Ramses hätte gegen etwas Stärkeres nichts einzuwenden gehabt, aber Feisal war ein gläubiger Mann und ein Spitzenathlet, als inoffizieller Tennischampion im Club zudem Schwarm aller Frauen.
»Demnach ist es diesmal der Sudan?«, erkundigte sich Feisal. »Wieso ausgerechnet dort? Ich dachte, ihr arbeitet in Theben.«
Ramses zuckte mit den Achseln. »Mein Vater hat sich mit Maspero überworfen.«
»Und deshalb schleppt er die ganze Familie mit nach Meroe? Oder wollt ihr nach Zerzura?«
Nur mühsam gelang es Ramses, seine Verblüffung zu überspielen. »Das ist doch nur ein Mythos«, sagte er wegwerfend. »Die weiße Stadt, wo der König und die Königin auf ihrem Thron schlafen und der Schlüssel zu unendlichen Schätzen im Schnabel eines geschnitzten Vogels steckt. Von dir hätte ich erwartet, dass du nicht an solchen Unsinn glaubst.«
»Das mit der sagenumwobenen Stadt des kleinen Vogels ist zweifellos eine Legende.« Feisals lange aristokratische Finger umschlossen die Teetasse. »Aber es gibt eine unerforschte Oase dort draußen, Ramses. Wilkinson erwähnte sie und Gerhard Rolfe kam bis an den Rand des Großen Sandsees, bevor er nach Siwa umkehren musste, und –« Grinsend brach er ab. »Hab ich dich mit diesem Blödsinn nicht schon das letzte Mal gelangweilt?«
»Eine fixe Idee von dir.« Ramses erwiderte sein Grinsen.
»Vielleicht. Aber eines Tages finde ich sie, Ramses, wart’s nur ab. Wenn mein Vater nicht wäre, würde ich gleich morgen aufbrechen. Irgendwann wird er mir die Erlaubnis geben, also komm mir nicht zuvor.«
»Würde mir im Traum nicht einfallen. Wie kommst du überhaupt darauf, dass wir derartige Pläne haben?«
»Von ihm.« Feisal deutete auf einen Mann, der in der Nähe saß. Er trug keine Kopfbedeckung, Haar und Bart waren ergraut, das tiefbraune Nussknackergesicht narbenübersät. »Newbold. Nennt sich gern Wildhüter. Kennst du ihn?«
»Entfernt.«
»Du magst ihn nicht?«
»Nicht besonders.«
Der suchende Blick des Mannes traf auf Ramses. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Grinsen, er stand auf und steuerte mit einem leichten Hinken zu ihnen. Er war klein und kräftig, seine muskulösen Arme unverhältnismäßig lang wie bei einem Gorilla.
»Darf ich mich zu den Herren setzen?«, fragte er. Ohne die Antwort abzuwarten, nahm er sich einen
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