Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
schlenderte zu ihm. Sie trug lediglich ein schlichtes Gewand, ärmellos und tief ausgeschnitten, Schmuck und Schleier hatte sie abgelegt. Das Haar fiel ihr in onyxglänzenden Wellen um die nackten Schultern.
Ramses schnappte sich das Hemd, das er über einen Stuhl geworfen hatte, und streifte es über. »Wenn er erfährt, dass du hergekommen bist, bringt er dich um.«
»Er hat mich geschickt.« Einen knappen Meter vor ihm blieb sie stehen.
Wut und Empörung kochten in ihm hoch. »Verstehe.«
»Lass mich bei dir bleiben – für eine Stunde oder auch zwei. Dann gehe ich wieder und kann vor ihm beteuern, dass ich alles Mögliche ausprobiert habe, aber gescheitert bin.«
Er versuchte, seinen Zorn zu bändigen. Sicher, sie konnte nichts dafür, aber in diesem Moment war er auf sie fast genauso wütend wie auf Newbold. »Lass mich eins klarstellen«, sagte er gefährlich ruhig. »Du solltest dich mir anbieten im Austausch für Informationen über unsere Pläne. Und dazu hast du dich bereit erklärt?«
Die Verachtung in seiner Stimme ließ sie tief erröten. »Ich hatte keine Wahl. Ich habe dir die Wahrheit erzählt und nicht die Geschichte, die er mir aufgetragen hat – dass ich vor ihm flüchtete, weil er sich betrank und mich irgendwann geschlagen hätte. Ich sollte um deinen Schutz bitten und dich umarmen und …«
Ihre schlanke Silhouette umschmeichelt von weichem Lampenschein, sah sie ungemein jung und hilflos und begehrenswert aus. Newbold hatte exakt die richtige Frau ausgesucht, um an seine Beschützerinstinkte zu appellieren, und lachte sich vermutlich eins ins Fäustchen, wenn er schwach würde.
Gegen diese Instinkte ankämpfend, sagte er schroff: »Und wenn ich nun dein Angebot annehme, dir aber trotzdem nichts verrate? Meinst du, ich plaudere irgendwelche Geheimnisse aus, nur weil ich zufällig mit irgendeiner Frau schlafe?«
Ihre Wangen wurden noch einen Ton dunkler. »Ob du es glaubst oder nicht, ich hab dir die Wahrheit gesagt.«
»Warte«, sagte Ramses, als sie sich zum Gehen wandte. Neugier und das schlechte Gewissen über seine fehlende Sensibilität hatten die Verärgerung überlagert. »Es tut mir Leid. Setz dich – da steht ein Stuhl. Und wieso hast du mir die Wahrheit gesagt? Setz dich doch bitte hin. Ich tu dir nichts, versprochen.«
Er hockte sich auf den Bettrand, bemüht, den größtmöglichen Abstand von ihr zu halten. Sie musterte ihn nachdenklich, bis sie sich schließlich leise lächelnd auf den Stuhl setzte.
»Du brauchst nicht bei ihm zu bleiben«, hob Ramses an. »Meine Eltern werden dir helfen.«
»Dass ich einen ehrbaren Ehemann oder eine Stellung als Dienstmädchen finde?« Der hübsche Mund verhärtete sich. Plötzlich wirkte sie um vieles älter. »Ich habe meine Gründe, warum ich bei Newbold bleibe. Eigentlich ist er ganz nett. Er hat mir den Arm nur umgedreht, um dich auf uns aufmerksam zu machen.«
»Das dachte ich mir«, schnaufte Ramses.
Mit leiser, abgehackter Stimme fuhr sie fort: »Ich hab dir die Wahrheit gesagt, weil mir Lügen nichts gebracht hätte. Du misstraust ihm ohnehin schon – zu Recht.«
»Wer bist du?«, wollte Ramses wissen. »Du bist nicht irgendeine Dorfschönheit. Wo hat er dich aufgegabelt?«
Sie erhob sich und schüttelte mit einer anmutigen Bewegung die schwarzen Locken nach hinten.
»Ich war lange genug hier«, erwiderte sie. »Er wird mir glauben, dass es nicht gefunkt hat zwischen uns. Er meinte zwar, es würde bestimmt klappen, weil du jung bist und – wie hat er sich noch gleich ausgedrückt –«
»Ist mir egal«, fauchte Ramses, dessen Gesicht jetzt glühte.
»Ach ja, er hält dich für einen naiven Romantiker. Deshalb wird er mir glauben. Wirst du deinen Eltern davon erzählen?«
»Was?«, rutschte es ihm unwillkürlich heraus. Soso, dann hielt Newbold ihn also für einen Schwächling? »Ja, sicher. Geh noch nicht. Du hast meine Fragen nicht beantwortet.«
Noch ehe er sich erhoben hatte, glitt sie geschmeidig zur Tür. Über die Schulter hinweg warf sie ihm einen unsicheren Blick zu. »Du wolltest mich, das konnte ich dir ansehen. Wieso hast du abgelehnt? Hast du Angst, dass deine Mutter etwas merken könnte?«
»Ja«, antwortete Ramses halbherzig. Jeder andere Grund wäre ihr unverständlich gewesen.
Geräuschlos verschwand sie im Gang. Zum Glück, dachte er ironisch. Dieser verdammte Newbold hatte gar nicht so falsch gelegen. Bei der Vorstellung, dass er seinen Eltern zwangsläufig von Darias Besuch würde berichten
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