Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
paar Worte mit Ramses wechselte, ging ihr Bruder spontan dazwischen.
»Sie reisen mit uns nach Khartum, nicht wahr? Können Sie uns schon etwas über die Lebensbedingungen in dieser Gegend sagen? Werden wir auf Menschen treffen, die unsere missionarische Arbeit positiv aufnehmen?«
Emerson hatte etwas gegen Bekehrer im Allgemeinen und im Besonderen gegen Mr Campbell. Mit der für ihn charakteristischen Direktheit wetterte er los: »Menschen ja. Positive Lebensbedingungen nein. Ich frage mich, Sir, wie Sie Ihre Schwester solchen Strapazen aussetzen können. Es ist doch lebensgefährlich in diesen Katastrophengebieten.«
»Ihr Leben liegt in Gottes Hand, Sir. Genau wie ich wurde sie zu dieser Rettungsmission berufen.«
»Rettung, pah«, schnaubte der Professor. »Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass es Ihr allgegenwärtiger Oberhirte war, der Sie dazu berufen hat?«
»Die Ungläubigen wandeln in der Dunkelheit und müssen zum Licht geführt werden.« Die Augen von Reverend Campbell, vergrößert durch dicke Brillengläser, nahmen einen feurigen Glanz an. »Diese Menschen glauben an schwarze Magie und Fetischverehrung. Ich weiß von unmoralischen Praktiken, die mich bis in die Tiefen meiner Seele erschüttert haben. Konkubinen! Orgien!«
»Nudismus«, sprang der Professor hilfsbereit ein. »Die Frauen gehen oben ohne und sind oft recht hübsch –«
»Emerson«, entfuhr es mir.
»Wir müssen noch unsere Sachen packen«, mischte sich Nefret höflich ein. Sie musterte das junge Mädchen freundlich interessiert. »Brauchen Sie medizinische Betreuung, Miss Campbell? Farah sagte, Sie fühlen sich nicht wohl. Ich bin Ärztin und habe eine gut ausgestattete Hausapotheke im Gepäck.«
Die junge Dame bedankte sich höflich, erklärte dann aber, sie sei soweit wieder genesen. Ihr Bruder schien nicht mehr zuzuhören. Die Lider halb geschlossen, bewegten sich seine Lippen wie im stummen Gebet. Der Mann war ein religiöser Fanatiker: Er forderte von seiner Schwester ein strenggläubiges Dasein. Er setzte ihre Gesundheit, ja ihr Leben aufs Spiel, anstatt dass die junge Frau einen netten Mann kennen lernte, mit dem sie ein schönes Leben haben könnte.
Während wir plauderten, drang Geschrei vom Oberdeck.
»Hat er ›Krokodil‹ gerufen?«, fragte Miss Campbell aufgeregt. »Ich hab noch nie eins gesehen!«
»Dann haben Sie jetzt die Gelegenheit«, versetzte Emerson, willens, das Gespräch zu beenden. »Sollen wir hochgehen und uns das niedliche Tierchen mal ansehen?«
Alle wollten mit. In Ägypten gab es kaum noch Krokodile und auch in dieser Gegend machten sie sich zunehmend rar. Passagiere und Schiffscrew drängelten sich an der Reling. Die Landschaft wurde ebener, der Fluss breiter. Hinter dem Schwemmland mit seinen sattgrünen Feldern und Palmenhainen erhob sich terrassenförmig die Wüste, fahlgelb im morgendlichen Licht. An manchen Stellen wurde der weiche Sandstein von Wadis zerschnitten. Der Wasserspiegel des Nils sank um diese Jahreszeit und hinterließ lange Sandbänke mit kiesigem Geröll und verrottetem Holz. Das deutsche Quartett photographierte eifrig und Newbold schob einen der Matrosen beiseite. Er war allein, seine Begleiterin hatte ich auf der gesamten Fahrt nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Ich sehe nichts«, hob Miss Campbell an.
»Da.« Ramses zeigte mit dem Finger. Sie kreischte wohlig entsetzt auf und beugte sich vor, als eines der reglos daliegenden Reptilien das Maul aufriss und von der Sandbank ins Wasser glitt. Zwei andere folgten. Ramses, der zufällig neben dem Mädchen stand, legte einen Arm um ihre Taille. »Vorsicht, beugen Sie sich nicht zu weit vor.«
Campbell, der auf der anderen Seite stand, riss sie protestierend von Ramses weg, der darauf zurücktrat. Obwohl ich die drei im Blickfeld hatte, entzieht sich meiner Kenntnis, was dann passierte. Ich hörte nur einen Aufschrei und ein Platschen und das laute Lamentieren der Zuschauer. Selims Stimme übertönte alle: »Hassan! Hilf ihm, Vater der Flüche!«
»Motoren abstellen!«, brüllte Emerson. Hektisch riss er Selim zurück. »Nein, Selim! Überlass das … Hölle und Verdammnis – Ramses –!«
Unser Sohn hatte sich über die Reling geschwungen und sprang eben ins Wasser. Er kraulte auf die rudernden Arme und das angstverzerrte Gesicht des armen Hassan zu. Das Schiff kam schlingernd zum Halten, die beiden blieben jedoch ein ganzes Stück hinter uns zurück, im Blickfeld eines bedrohlichen Schattens dicht unter dem
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