Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
seine Tochter aufgedrängt –«
»Ja, ja«, meinte Emerson ungnädig. »Das ist ja alles hochinteressant, mein Junge, aber komm auf den Punkt.«
Selim entfuhr ein verblüffter Seufzer. »Nefrets Mutter? Heißt das, sie war die Gottesgemahlin hier? Ich dachte, sie wäre bei Nur Misurs Geburt gestorben.«
»Das ist die Version, die Nefret glaubt«, bemerkte ich. »Und du darfst ihr nie, nie etwas anderes erzählen, Selim. Ihre Mutter verlor den Verstand, sie verleugnete ihren Mann und ihr Kind und wusste nicht mehr, wer sie war. Sie ist tot und es gibt keinen Grund, warum Nefret die Wahrheit erfahren sollte, die sie nur kreuzunglücklich machen würde.«
»Wenn das so ist«, meinte Selim gedehnt. Er strich nachdenklich über seinen Bart. »Eine Mutter, die ihr eigenes Kind verleugnet …«
»Sie war nicht mehr bei Sinnen«, sagte Daoud. »Dafür konnte sie doch nichts. Wäre Nur Misur sehr traurig, wenn sie es erführe?«
»Ja«, erwiderte ich mit einem wehmütigen Lächeln. »Traurig und sehr, sehr unglücklich.«
»Dann werde ich schweigen wie ein Grab«, beteuerte Daoud.
»Ich auch«, bekräftigte Selim. »Für immer.«
»Nachdem das geklärt ist«, schaltete Emerson sich ein, »können wir uns wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Zekare besitzt vielleicht genug Macht, um die Stellung der Gottesgemahlin zu kontrollieren, aber offensichtlich braucht er uns und Nefret, um seine Regentschaft zu manifestieren.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Einfluss derart groß ist beziehungsweise seine Position so schwach«, protestierte ich.
Emerson hatte seine Tabakvorräte sparsam gehortet. Jetzt nahm er Pfeife und Tabaksbeutel heraus. Er behauptet, dass dieses widerliche Kraut seine kleinen grauen Zellen aktiviert. Das hoffte ich, denn wir brauchten dringend einen zündenden Geistesblitz.
»Es muss aber so sein«, brummte er, »sonst wären wir nicht hier. Sag jetzt nicht, dass meine Logik hinkt, Peabody, sondern stell dich den Realitäten. Wir sind hier definitiv von einiger Bedeutung, sonst wären wir nicht auf jenem Pylon verewigt. Tarek war ein beliebter Monarch, vor allem bei den unteren Bevölkerungsschichten. Ein von reaktionären Adligen und dem Priesterstand gestützter Militärschlag hat ihn möglicherweise entmachtet. Diese frömmlerischen Bastarde stecken ihre Nasen doch dauernd in die Angelegenheiten des Staates.«
Das war grober Unfug und ein Beispiel für Emersons tiefsitzendes Vorurteil gegen den Klerus, aber ich ließ es unkommentiert im Raum stehen. Die Priester des Aminre, Hauptgottheit des Heiligen Bergs, hatten Tareks Bruder bei der Machtergreifung unterstützt, zumal der Hohepriester schon damals einer seiner ärgsten Widersacher gewesen war.
Daoud sah mich an. »Hast du schon einen Plan, Sitt?«
»Grundgütiger, Daoud hat Recht«, platzte Ramses heraus. »Wir sollten taktisch planen, statt uns müßigen Spekulationen hinzugeben.«
»Was schlägst du vor?«, erkundigte ich mich leicht gereizt.
»Auf alle Fälle müssen wir schleunigst einen Weg finden, mit Tarek zu sprechen. Bestimmt hat er noch loyale Anhänger – eine Oppositionspartei, die zwangsläufig im Untergrund agiert. Deren Mitglieder müssen wir ausfindig machen und ihnen unsere Unterstützung anbieten, im Gegenzug für ihre. Wir haben Waffen, allerdings nicht genug für alle. Ohne fremde Hilfe können wir die Mädchen nicht befreien.«
»Klingt plausibel«, meinte Emerson genüsslich schmauchend. »Nicht zufällig sind unsere Diener diesmal keine Rekkit. Die Mehrheit dieses unterdrückten Volksstammes steht vermutlich hinter Tarek, hat aber keinen Einfluss, zudem gestaltet es sich schwierig, an die Leute heranzukommen. Ihr wisst doch noch, wie problematisch es damals war, die Genehmigung für einen Besuch in ihrem Dorf zu bekommen.«
»Das ist der nächste Schritt«, sagte Ramses. »Oder der erste, wenn man so will. Wir müssen uns frei bewegen können. Soll heißen, wir überzeugen den neuen König, dass wir auf seiner Seite stehen. Vater, schaffst du es, dich bei dem Monarchen und bei Merasen beliebt zu machen?«
»Jedenfalls leichter als du.« Emerson musterte seinen Sohn scharf.
»Das dürfte nicht besonders schwierig sein«, überlegte ich laut. »Machtbesessene Menschen sind extrem empfänglich für Schmeicheleien.«
»Das Einschleimen überlass ich dir«, knurrte mein Göttergatte. »Ich werde den Burschen einen Kompromiss vorschlagen: unsere Loyalität, wenn nötig öffentlich demonstriert, im
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