Amelia Peabody 17: Die Schlangenkrone
Familie hatte bis 1907 an den unbekannteren Gräbern arbeiten dürfen – mit der zähneknirschenden Zustimmung des amerikanischen Hobbyarchäologen Theodore Davis, der bis dahin quasi das Exklusivrecht auf jede neue Grabanlage gepachtet hatte. Und Davis hatte etliche Grüfte freigelegt, besser gesagt seine archäologischen Assistenten. Fatalerweise hatte Davis’ unsachgemäßer Umgang mit dem rätselhaften Begräbnis in KV 55 bei Emerson einen explosionsartigen Wutausbruch ausgelöst, worauf Monsieur Maspero, der damalige Chef der Antikenverwaltung, sich auf Anweisung des einflußreichen Amerikaners gezwungen sah, die ganze Familie aus dem Tal zu entfernen.
Trotzdem war es eine fantastische Saison gewesen, seufzte Ramses im stillen. Hätte sein Vater sich damals nicht mit Maspero angelegt, hätten sie vielleicht sogar eine Chance auf den Firman gehabt, so Davis denn irgendwann das Handtuch werfen sollte. Von allen Ausgrabungsstätten in Ägypten war das Tal der Könige nämlich Emersons Favorit.
Jetzt bedachte Emerson den Eingang zu KV 55 im Vorbeigehen jedoch nur mit einem schiefen Seitenblick. Leise Beschimpfungen murmelnd, schob er sich durch die Touristenmassen. Die Sonne stand bereits hoch über den aufragenden Klippen. Ramses faßte seine Mutter am Arm.
»Ich könnte eine Pause vertragen. Und du?«
Der Tropenhelm verdeckte ihre obere Gesichtshälfte, er bemerkte jedoch, wie sich ihre zusammengepreßten Lippen entspannten. An diesem Morgen hinkte sie ein bißchen und versuchte angestrengt, sich das nicht anmerken zu lassen. Es war ihm schon hin und wieder aufgefallen, allerdings würde sie nie zugeben, daß sie müde war oder ihr die Füße schmerzten. »Wie du willst, mein Schatz.«
Emerson kam zurück und erkundigte sich verdutzt, wieso sie denn stehenblieben. Seine Gattin, die ihren berühmtberüchtigten, weil ringsum mit diversen »nützlichen Dingen« bestückten Utensiliengürtel trug, entkorkte ihre Wasserflasche und reichte sie den anderen. Nefret nahm einen Schluck, Ramses ebenfalls, nachdem seine Mutter ihren Durst gestillt hatte. Emerson winkte ab – er kam so lange ohne Wasser aus wie ein Dromedar.
Sie gingen weiter, inspizierten ein Seitenwadi nach dem anderen, bis sie in eine von ausgezackten Klippen begrenzte Sackgasse gelangten. Hoch über ihnen, in einer engen Spalte, war ein Grabeingang – der des großen Eroberer-Pharaos Thutmosis III.
»Was macht Vater da eigentlich?« wollte Nefret wissen.
Ihre Schwiegermutter öffnete den mitgebrachten Sonnenbeziehungsweise Degenschirm. Sie nutzte diesen nämlich häufiger als Verteidigungswaffe, räumte jedoch gern ein, daß er auch anderweitig einsetzbar sei, wie beispielsweise als Schattenspender.
»Vermutlich sucht er nach Anzeichen für unautorisierte Grabungen. Dergleichen passiert vermutlich eher hier, wo es einsamer ist, und nicht im Haupttal. Frag mich jetzt nicht, was er sich davon verspricht.«
Dieser abgelegene Bereich verströmte eine majestätische und mystische Aura, die das Zentrum des Tals eingebüßt hatte, nachdem die Antikenverwaltung die Wege begradigt und ordentliche Stützwände neben den meisten Grabeingängen hochgezogen hatte. Hier, fernab von Lärm und Hektik, vermochte man sich durchaus vorzustellen, wie die altägyptische Trauergemeinde sich durch das Felsgestein geschlängelt hatte, angeführt von den Totengesängen der weißgekleideten Priester und dem Wehklagen der Frauen. Auf dem schweren, vergoldeten Sarg brach sich glitzerndes Sonnenlicht, blendete die Augen. Wie alle anderen Sarkophage war auch der von Thutmosis III. vor Urzeiten geraubt worden. Gleichwohl war er einer der reichsten und mächtigsten Regenten des Landes gewesen, mit Nubien und Syrien unter seiner Herrschaft; nahezu unvorstellbar für den menschlichen Geist, welche Schätze vermutlich mit ihm begraben wurden.
Emersons Gebrüll riß Ramses aus seinem Tagtraum, nicht zuletzt eine Folge des Schlafmangels.
»Hat Carter nicht im vorigen Jahr hier gearbeitet?« fragte Ramses ein wenig benommen.
Emerson antwortete ihm nicht. Statt dessen wühlte er in einem der riesigen Stein- und Schutthaufen, das Rufen seiner Frau geflissentlich überhörend: »Emerson, deine Handschuhe! Zieh gefälligst Handschuhe an!« Ramses kniete sich neben ihn, insgeheim skeptisch, was in Herrgottsnamen sein Vater hier zu finden hoffte. Sie entdeckten eine ganze Reihe von Tonscherben und den Fuß eines Fayence-Uschebtis – Davis hatte das Geröll nie gesiebt.
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