Amelia Peabody 17: Die Schlangenkrone
man lediglich die einschlägigen Adressen kennen.) Eine Untersuchung der verkohlten Ziegelfragmente – es war die frühere Nordostwand – ergab, daß die Wirkung der Explosion lediglich auf diesen Bereich abzielte. Daß die gesamte Konstruktion eingestürzt war, hatte vermutlich niemand beabsichtigt.
»Ein Glück, daß Wasim in Türnähe geschlafen hat«, meinte Selim und klopfte sich den Mörtel von den Händen. »Keine schöne Sache, Ramses. Wir müssen uns die Männer in Kurna vornehmen und in Erfahrung bringen, wer ein Alibi hat.«
Grinsend klopfte Ramses ihm auf die Schulter. »An dir ist ein echter Detektiv verlorengegangen, Selim. Leider hat der Bursche nicht einen Fingerabdruck oder sonst irgendwas hinterlassen, das uns weiterbringen könnte.«
»Trotzdem werden wir den Kurnawis auf den Zahn fühlen«, entschied Selim. »Wie geht es Wasim?«
»Er genießt die Erholungspause und stopft sich in der Zwischenzeit mit Fatimas Leckereien voll. Nefret hat ihn verarztet und ihm erklärt, er könne nach Hause gehen, aber dafür fühlte er sich zu geschwächt.«
»Wir müssen einen anderen Wachmann einsetzen«, erklärte Selim. »Und das Haus neu bauen.«
»Das überlasse ich dir. Es hat ohnehin keinen Sinn, heute noch nach Deir el-Medina aufzubrechen.«
Ramses widmete sich wieder seinen Papyri. Unterschwellig empfand er leichte Schuldgefühle, obwohl er bei dem Wiederaufbau wirklich nicht gebraucht wurde. Selim hatte ein Dutzend Gehilfen, deren tatkräftige Präsenz zudem ausreichte, um die wenigen neugierigen Zaungäste zu verscheuchen.
Während des Mittagessens ging seine Mutter die aktuelle Post durch. »Nichts von den Pethericks dabei?« wollte Ramses wissen.
»Nein. Das überrascht mich irgendwie. Aber vielleicht ist Mrs. Petherick der Sache überdrüssig geworden.«
Am Nachmittag dann überbrachte ein Bote eine handschriftliche Mitteilung. David John, der erstaunlich früh Lesen gelernt hatte, brütete über einem Buch, und Ramses spielte mit Carla Fangen, als seine Mutter in den Garten kam. »Wo ist Nefret?« erkundigte sie sich.
»Sie hat einen Patienten.« Ramses nahm die Notiz an sich und entwischte seiner Tochter, indem er sich auf einen Baum schwang. Carlas gerechtfertigtes Wutgeheul »Das gilt nicht, Papa, das gilt nicht!« ignorierend, überflog er die Zeilen.
»Das stimmt«, gestand er lachend Carla zu und sprang zu Boden. »Ich hab verloren, und du gewinnst. Jetzt geh schnell und wasch dich, bevor es Tee gibt. Papa muß mal kurz weg.«
»Fatima hat Pflaumenkuchen gebacken«, setzte seine Mutter hinzu.
»Gehst du auch weg?« wollte Carla wissen.
Ihre Großmutter strich der Kleinen über die wirren schwarzen Locken. »Ja.«
Die dunklen Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen, erwog Carla die Vor- und Nachteile. David John hatte bereits die logischen Schlüsse gezogen: Waren die anderen erst einmal fort, würde die nachgiebige Fatima ihnen bestimmt den gesamten Pflaumenkuchen überlassen. Er schloß das Buch, umarmte hastig seine Großmama und trottete gemeinsam mit Carla ins Haus.
Ramses nahm seinen achtlos hingeworfenen Mantel von der Bank, und seine Mutter sagte: »Ich bin froh, daß du dich bereit erklärt hast, mitzukommen. Mrs. Petherick scheint mir einem Nervenzusammenbruch nahe. Wenn wir nicht bald bei ihr aufkreuzen, tut sie womöglich noch etwas Unüberlegtes.«
Ramses überflog erneut die Notiz. Die zittrige Handschrift ließ auf ein angegriffenes Nervenkostüm und fahrige Hände schließen: Er wird mich noch vor Einbruch der Dunkelheit holen. Beim Allmächtigen, bitte beeilen Sie sich!
»Ich bin ganz deiner Meinung, daß wir zu ihr müssen«, bekräftigte er. »Aber du hast doch sicherlich einkalkuliert, Mutter, daß dieser verzweifelte Hilfeschrei auch eine Finte sein kann, oder? Ich hatte bislang den Eindruck, daß du die ganze Geschichte für einen inszenierten Presserummel hältst.«
»Wenn das Leben so einfach wäre!« seufzte seine Mutter vielmeinend. Sie faßte seinen Arm und führte ihn sanft, aber entschieden über den Gartenweg. »Der Mensch macht sich gern etwas vor, wie die Fälle von Hypochondrie belegen. Mrs. Petherick ist möglicherweise fest davon überzeugt, daß die Bedrohung real ist, damit rechtfertigt sie ihre Handlungen vor sich selbst und –«
»Ja, Mutter.«
Sie mochte ja recht haben, aber ihr selbstgefälliges Lächeln und ihre ausholenden Schritte verrieten ihre wahren Motive. Er hatte letztlich umsonst gehofft, daß er sie davon abbringen
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