Amelia Peabody 17: Die Schlangenkrone
ihr Stethoskop auspackte. »Nichts gegen Dr. Westins Behandlungsmethoden, trotzdem möchte ich mir Ihre Verletzungen kurz anschauen. Ihr Unterschenkel, nicht wahr?«
Ich schlug die Bettdecke zurück. Das Bein war vom Knöchel bis zum Knie dick verbunden, ebenso sein linker Arm, Kopf und Brustkorb.
»Tja«, seufzte ich, nachdem ich meterweise Verbandmull abgewickelt hatte. »Nach meiner Erfahrung heilen bestimmte Wunden wesentlich schneller, wenn sie mit Luft in Berührung kommen. Diese Abschürfung an Ihrem linken Bein beispielsweise. Was meinst du, Nefret?«
Sie hatte seine Herztöne abgehört und Temperatur gemessen.
»Knochenbrüche kann ich jedenfalls keine feststellen«, diagnostizierte sie, nachdem sie ihn fachmännisch abgetastet hatte. »Sie hatten wirklich Glück, Mr. Lidmann, nur ein paar Schrammen und Prellungen.«
Lidmann faßte sich mit fahriger Hand an den Kopfverband. »Mein Gedächtnis …«, murmelte er. »Ich kann mich nicht erinnern …«
»Nach einer Gehirnerschütterung tritt häufig ein kurzzeitiger Erinnerungsverlust auf«, erklärte sie ihm. »Erzwingen Sie nichts, das wird schon wieder. Ich empfehle Bettruhe und eine stärkende Diät. Sie sind hier in den besten Händen, Mr. Lidmann.«
»Ein Bediensteter wird sich vor Ihrer Tür aufhalten, falls Sie in der Nacht etwas brauchen«, setzte Katherine hinzu.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. So liebenswürdig.«
»Katherine, ich lasse Ihnen etwas gegen die Schmerzen und ein Schlafmittel da«, meinte Nefret, nachdem wir ihm eine angenehme Nachtruhe gewünscht hatten. »Für den Fall, daß er dergleichen braucht. Ihm selbst möchte ich die Medikamente nicht anvertrauen, dafür ist er mir momentan zu verwirrt.«
»Korrekt«, bekräftigte ich. »Wie ist deine Einschätzung, Nefret?«
»Die Verletzungen sind echt«, meinte sie. »Und sie stammen von einem schweren Sturz und den Auswirkungen der starken Strömung im Fluß.«
»Könnte er Mrs. Petherick nicht erstickt haben?« gab ich zu bedenken.
Katherine schrak zusammen. »Aber Amelia, wo denken Sie hin! Warum sollte er so etwas tun?«
»Ich weiß kein Motiv, Katherine, aber das ist kriminaltheoretisch auch zweitrangig. Mir drängt sich hier einzig die Frage auf, ob er physisch zu dieser Tat fähig gewesen wäre.«
»Das kann ich dir wirklich nicht beantworten, Mutter«, sagte Nefret leicht ärgerlich. »Grundsätzlich würde ich die Frage verneinen, andererseits gibt es Menschen, die zu allem fähig sind. Wieso verdächtigst du ausgerechnet Lidmann?«
»Ich verdächtige alles und jeden«, versetzte ich.
Ich lag bereits gemütlich lesend im Bett, als Emerson ins Zimmer trabte.
»Schon so früh in den Federn, hm?« grinste er. »Schön, schön, meine Liebe. Warst in letzter Zeit ja auch bienenfleißig.«
»Mmmm.« Ich blätterte die Seite um.
»Was liest du denn da Spannendes?« wollte er wissen. Dabei entkleidete er sich und verstreute seine Sachen dekorativ im Zimmer.
»Häng deine Hose über den Stuhl, Emerson. Ich lese einen von Gräfin Magdas Romanen, Die Tochter des Vampirs. Marjorie Fisher hat ihn mir ausgeliehen.«
»Wieso verplemperst du deine Zeit mit solchem Dreck?« bohrte er weiter. Ich konnte mich dem Eindruck nicht verschließen, daß ihm eine andere zeitintensive Aktivität vorschwebte.
»Ich war neugierig. Das Buch ist wirklich ein Haufen Schund, aber das hier ist interessant.« Ich wedelte mit einem Stück Papier in der Luft. »Das ist Magdas Biografie. Marjorie hat sie wohl aus einer Zeitung ausgeschnitten.«
»Oh?«
» Unsere beliebte Autorin wurde auf dem Familiensitz Schloß Ormondstein als einziges Kind überglücklicher Eltern geboren, die ihre außerordentliche Begabung schon im Krabbelalter erkannten und weder Zeit noch Kosten scheuten, Lehrer für die verschiedenen Fächer zu engagieren und die Förderung –«
»Hört der Satz denn nie auf?« erkundigte sich mein Göttergatte.
»Eine typisch journalistische Lobhudelei, mein Lieber.«
Ich räusperte mich und las weiter. » Ihr idyllisches Dasein fand mit Ausbruch des Krieges ein tragisches Ende und – In Ordnung, Emerson, ich mache es kurz. Ihr Vater, Graf von Ormond, ist der österreichischen Armee beigetreten –«
»Ich dachte, sie wäre Ungarin.« Emerson schlug die Laken zurück und warf sich temperamentvoll aufs Bett. »Austro-ungarisch. Er war ein Offizier des Kaisers, selbstverständlich in der Kavallerie. Als er heldenmutig in der Schlacht von Petrograd fiel …«
»Das kann nicht
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