Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
Befürchtungen als unbegründet. Der alte Knabe hatte sich vermutlich nur verlaufen und mir damit eine Mordsangst eingejagt. Zumal er im sprichwörtlich letzten Augenblick wieder aufgekreuzt war. Ein schriller Pfiff und die Lokomotive setzte sich stampfend in Bewegung. Gargery und Ramses schaukelten durch den Gang in unsere Richtung.
Sennia zwängte sich an mir und einer rundlichen Dame mit einem federbesetzten Umhang vorbei und stürzte sich auf Gargery. »Das war aber nicht nett von Ihnen, Gargery. Wir hatten schon schwerste Bedenken, dass Sie sich verspäten könnten.«
»Es war nicht meine Schuld, Sennia. Warten Sie, bis ich Ihnen alles erzähle.« Der Zug ruckte und unser Butler taumelte. Ramses schob ihn kurzerhand in die ausgestreckten Arme von David, der in ihrer Abteiltür stand. »Da hinein, Gargery. Setzen Sie sich und seien Sie still.«
Wir zwängten uns alle in besagtes Abteil. Die beiden langen Bänke, die sich zu Betten umfunktionieren ließen, boten sechs Leuten Platz. Gargery sank mit einem Stoßseufzer auf einen der Sitze. Inzwischen sah er schon wieder besser aus. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen und enthüllten ein Prachtexemplar von einem Gebiss, das wir ihm finanziert hatten. »Ich bin ihnen entwischt«, erklärte er. »Schwuppdiwupp! Sie haben nämlich einen großen Fehler gemacht. Zu denken, sie könnten ein Mannsbild wie mich gefangen halten, pah!«
Sennias Augen wurden groß wie Unterteller. (Kleine Unterteller.) Sie umklammerte seinen Arm. »Man hat Sie gefangen gehalten? Oh Gargery, sind Sie verletzt?«
»Teufel noch«, knurrte Ramses. Er riss sich den Hut vom Kopf, schleuderte ihn durch das Abteil und raufte sich die Haare.
Jetzt war es zu spät. Man hätte Gargery schon knebeln müssen, um zu verhindern, dass er seine heldenhafte Flucht herausposaunte. Seine Gefangennahme ließ er wohlweislich außen vor, und erst als wir ihm einen großzügig bemessenen Whisky-Soda spendiert hatten, bekamen wir eine plausible Schilderung der Ereignisse von ihm.
Er war von einem Boten aufgeweckt worden (»aus brütenden Gedanken herausgerissen«, wie er das nannte), der ihm eine Notiz folgenden Inhalts ausgehändigt hatte: »Triff uns am Bahnhof.« Auf Anraten dieser hilfsbereiten Person hatte er den Ober von seinem Vorhaben in Kenntnis gesetzt und war dem Boten aus dem Hotel gefolgt, wo eine geschlossene Kutsche wartete. In dem festen Glauben, dass wir diese geschickt hätten (was durchaus nachvollziehbar war), hatte er erst Verdacht geschöpft, als man ihn zwischen zwei stämmige Maskierte zwängte. Besagte Individuen hatten ihn gefesselt und geknebelt. Die Dolchspitze an seiner Kehle sei ihm Warnung genug gewesen, sich nicht weiter zur Wehr zu setzen – denn, so versicherte er uns, er habe wie ein Löwe gekämpft.
»Wo brachten sie Sie hin?«, fragte ich, als Gargery Atem schöpfte.
»Nirgendwohin, Madam.« Für den Herzschlag eines Augenblicks vergaß er seine guten Manieren und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. »Wir fuhren stundenlang herum, Madam. Ich dachte ständig, sie könnten mir die Kehle aufschlitzen. Aber ich hatte keine Angst, Madam, ich spielte lediglich auf Zeit. Schließlich hielt die Kutsche an.«
Gargery nahm einen weiteren Schluck Whisky und schien intensiv nachzudenken.
»Und dann?«, drängte ich.
»Und dann …« Leicht entrückt nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. »Wissen Sie, Madam, inzwischen hatte ich meine Hände befreit. Einer der Kerle sprang aus der Kutsche, ließ den Verschlag offen und ich – öhm – versetzte dem anderen Schurken einen Schwinger mit meinem Stock, band mir die Füße los und schwang mich hinaus. Immerhin waren sie zu dritt, Madam, wenn man den Kutscher hinzunimmt! Und … und … und dann sah ich den Bahnhof direkt vor mir. Ich lief so schnell ich konnte, bis Mr Ramses mich entdeckte.«
Wir waren sprachlos, bis auf Sennia, die die Arme um Gargery schlang und ihm versicherte, dass er ein Held sei. »Soso«, sagte Ramses. Er hatte seine Stimme unter Kontrolle, doch seine Miene sprach Bände. »Gargery, was halten Sie davon, wenn Sie Sennia in den Speisewagen begleiten? Stärken Sie sich ein bisschen. Wir kommen gleich nach.«
»Appetit hätt’ ich schon«, gestand Gargery. »Nach so einem dramatischen Zwischenfall.« Mithilfe seines Stocks rappelte er sich auf und strahlte uns mit seinen blitzenden Porzellanbeißerchen an.
»Es ist schön, wieder in Ägypten zu sein, Madam!« David sah den beiden
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