Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
Hand zielte und abdrückte.
Es war schon eine ganze Weile her, seit ich zuletzt von Abdullah geträumt hatte. Als ich ihn jetzt aus dem Tal der Könige auf mich zuschreiten sah, war ich so perplex, dass ich das Dümmste fragte, was mir gerade einfiel.
»Wo bist du gewesen?«
»Hier«, sagte Abdullah und strich sich über seinen schwarzglänzenden Bart.
Gar kein so übler Ort für ein Leben nach dem Tod. Karg erstreckte sich das felsige Plateau hinter ihm, der Wind blies frisch vom Fluss herüber und das Tal breitete sich wie ein weicher Teppich unter uns aus – silbrig schimmernder Sand gesäumt von smaragdgrünen Feldern und funkelndem Wasser, getupft mit kleinen Dörfern und den Ruinen der verfallenen Tempel am Rande der fruchtbaren Ebene. Dort, wo wir zu seinen Lebzeiten so oft verweilt hatten, trafen wir uns auch jetzt.
»Hmpf«, meinte ich gedehnt.
Abdullah schmunzelte. »Das hätte von Emerson stammen können. Hast du dich nie gefragt, Sitt, wieso ich zu dir komme und nicht zu ihm, der mir so nahe stand wie ein Bruder?«
»Nein.«
Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Für den Herzschlag eines Augenblicks verharrten wir schweigend und sahen einander tief in die Augen.
»Ich möchte dir nicht zu nahe treten«, hob ich an. »Aber ich brauche dringend einen Rat. Gute Güte, Ärger und Aufregung sind bei uns an der Tagesordnung, aber so verunsichert wie diesmal war ich noch nie. Ich weiß nicht, wem ich trauen kann und was ich tun soll.«
»Ich soll dir sagen, was du zu tun hast?«, fragte Abdullah halb erstaunt, halb entgeistert.
Der Augenblick war vorbei. Die spirituelle Verbundenheit verpufft, sei’s drum.
Ich setzte mich auf den Boden und zog die Füße unter mich. Hoffentlich hatte ich nachher keine Probleme mit dem Aufstehen! Ich konnte nämlich gut darauf verzichten, dass Abdullah wieder eine seiner spitzen Bemerkungen über mein Alter und irgendwelche Gebrechen losließ. »Dann will ich das tun«, murmelte Abdullah. Geschmeidig sank er neben mir in den Schneidersitz. »Feiert Weihnachten und macht den Kindern schöne Geschenke. Aber komm bloß nicht auf die Idee, der kleinen Amazone Pfeil und Bogen zu schenken.«
»Aber Abdullah, wo denkst du hin!«
»An Weihnachten sollen alle mein Grab besuchen. Und ein kleines Präsent dalassen«, meinte Abdullah selbstgefällig. »Ein Porträt von mir, gemalt von dem kleinen Künstler, und ein silbernes Kettchen von Carla – die Kleine wird zu besitzsüchtig, und von Sennia wünsche ich mir eine ihrer hübschen Haarspangen. Und Geld für die Armen, in meinem Namen.«
Ich betrachtete ihn mit missfälliger Verwunderung. »Deine Heiligkeit ist dir wohl zu Kopf gestiegen, Abdullah. Oder versuchst du nur, mich vom Wesentlichen abzulenken?«
»Es ist wichtig, die Kleinen zu erfreuen, Sitt, aber auch, sie Demut und Liebe zu lehren. Der Heilige Koran und eure Heilige Schrift vermitteln uns, dass wir mit denjenigen teilen sollen, die von der Vorsehung nicht begünstigt wurden.«
Die Lippen gespitzt, den Blick zum Himmel gerichtet, wirkte er so frömmlerisch, dass ich mir das Lachen versagen musste. Zu seinen Lebzeiten hatte er sich zwar an die Lehren des Korans gehalten, es mit der Gläubigkeit aber nie übertrieben. Wer weiß, vielleicht hatte er zu religiöser Erleuchtung gefunden, nachdem er posthum zum Heiligen erklärt worden war.
»Das ist wohl wahr, Abdullah, und ich werde deine Wünsche beherzigen. Und was ist jetzt mit praktischen Ratschlägen?«
»Du mischst dich in Dinge ein, die dich nichts angehen, Sitt. Lass das.«
»Das hab ich doch schon mal irgendwo gehört«, sagte ich trocken. »Wenn du vielleicht die Güte haben würdest, ein bisschen spezifischer zu werden. Welche Dinge betreffen mich denn überhaupt?«
»Lediglich zwei. Das Glück der Kleinen und das Pharaonengrab.«
»Ich habe mich darum gekümmert, dass sie rund um die Uhr beaufsichtigt werden.«
»Das meine ich nicht. Die Kinder sind nicht in Gefahr. Kein Ägypter würde es wagen, sie auch nur anzurühren, aus Angst vor dem Zorn des Vaters der Flüche.«
»Das hat Selim auch beteuert.«
»Selim hat Recht – diesmal«, bekräftigte Selims Vater. »Mach sie fröhlich und bewach das Grab.«
Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich. Wie üblich wollte er sich eilends davonmachen, deshalb rappelte ich mich mühsam auf.
»Warte! Mit der Bewachung von Tutanchamons Grab haben wir rein gar nichts zu tun, Abdullah. Es gehört Lord Carnarvon.«
Mit wehend weißen Galabijaschößen
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