Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
die zeitweiligen Wohnunterkünfte der Handwerker identifiziert, die an den Königsgräbern gearbeitet hatten, oder verstanden, wie Ramses allmählich auch, warum Emerson fasziniert dorthin starrte.
Carla hatte sich an die Spitze des Trupps gesetzt, indem sie ihren grinsenden Träger verzückt jauchzend anfeuerte. Ihre Großmutter räusperte sich vernehmlich. »Ramses, sie entwickelt sich zu einer richtigen Sklaventreiberin. Hol sie da runter.«
Emerson hatte die Situation ebenfalls beobachtet. Als Ramses hinzukam, hatte der Professor die Kleine bereits erreicht und redete auf sie und den fremden Mann ein.
»Carla, hab ich dir nicht gesagt, du sollst in unserer Nähe bleiben?«, wetterte er mit strenger Stimme. »Und du … wie heißt du? Ich kenne dich nicht.«
Ramses kannte den Mann auch nicht. Ein hochgewachsener, gut gekleideter Bursche mit hagerem Gesicht und kantigem Kinn. »Mahmud, oh Vater der Flüche«, antwortete der Fremde bereitwillig. »Ich kam von Medamud hierher, weil ich gehört hatte, dass ihr Arbeiter sucht. Ich habe zwei Ehefrauen und dreizehn Kinder, und –«
»Ja, ja«, beschwichtigte der Professor. »Wende dich an Selim, meinen Rais. Den kennst du doch sicher.«
»Alle Männer kennen Selim, Vater der Flüche. Hab Dank.«
Carla segelte in Emersons ausgestreckte Arme, worauf der sie am Boden absetzte. »Laufen hat noch keinem geschadet«, brummelte er. »Komm, nimm meine Hand.«
»Er war so ein netter Mann«, maulte Carla. »Er lief ganz schnell, als ich ihn anfeuerte.«
»Menschen sind keine Lastesel«, gab Ramses zurück. »Ich hoffe, du hast dich wenigstens bei ihm bedankt.«
Carla sah sich suchend um, aber der nette Mahmud war bereits verschwunden.
Gegen Mittag veranstalteten sie ihr Picknick in einem leeren Grabschacht, dann ging es heimwärts. David Johns Haut rötete sich zunehmend, obwohl er einen Sonnenhut trug, und beide Kinder litten ein wenig unter der ungewohnten Hitze. Sie wähnten sich zwar viel zu alt für einen Mittagsschlaf, gingen aber trotzdem brav in ihr Zimmer, um ein Stündchen zu ruhen. Nefret machte einen Abstecher in ihre Behandlungsräume; nachdem sich die Neuigkeit von ihrer Ankunft wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, erwartete sie dort eine ansehnliche Patientenschar. Ihre Praxis war die einzige am Westufer, und Nur Misur, Licht von Ägypten, wie Nefret genannt wurde, wurde von den Dorfbewohnern mit liebevollem Respekt bewundert.
Einige der älteren Herrschaften schworen jedoch weiterhin auf die medizinischen (und magischen) Fertigkeiten ihrer Schwiegermutter, die die junge Frau an jenem Tag begleitete. Ramses traf seinen Vater allein auf der Veranda an.
»Eigenartig, nicht?«, hob er an.
»Das mit dem hilfsbereiten Mahmud?« Emerson bedeutete ihm, sich zu setzen, und kramte seine Pfeife hervor.
»War mir klar, dass dich das beschäftigen würde.«
»Mich beschäftigt eine ganze Reihe von Dingen.«
Emerson wandte den Blick in Richtung Straße zu dem kleinen Wächterhaus, das sie im Vorjahr errichtet hatten. Der einfache Unterstand aus Nilschlammziegeln diente dazu, ungebetene Besucher abzuwimmeln. Wasim, der gerade Wachdienst hatte, lehnte im Türrahmen und schmauchte genüsslich seine Wasserpfeife.
»Ich hab mich mit Wasim unterhalten«, fuhr der Professor fort. »Er sah so verdammt selbstzufrieden aus, und als ich ihn darauf ansprach, gab er offen zu, dass er jemandem ein ordentliches Bakschisch aus der Tasche gezogen habe. Der Bursche hätte ihn nach unseren letzten Besuchern ausgefragt, meinte Wasim.«
»Hieß der Bursche zufällig Mahmud?«
»Die Beschreibung passte nicht auf ihn. Wasim sagte, er hätte zwar fließend Arabisch gesprochen, aber mit einem seltsamen Akzent.«
»Eigenartig«, wiederholte Ramses. »Was hat Wasim ihm erzählt?«
»›Die Wahrheit! Oh Vater der Flüche!‹ Dass wir seit unserer Ankunft noch keine Gäste hatten.«
»Wir werden beobachtet.«
»Scheint mir auch so.« Emerson nickte. »Letzte Nacht hab ich Leute in unmittelbarer Nähe des Hauses bemerkt.«
»Du auch? Ich war drauf und dran, hinauszugehen und sie zu verscheuchen, aber –«
»Aber sie taten nichts Unrechtmäßiges«, beendete Emerson den Satz. »Genau. Das wirft natürlich ein völlig neues Licht auf die Behauptung deiner Mutter, dass unsere Suiten in Kairo durchsucht worden seien.«
»Und auf den reizenden Mahmud?«
Emerson runzelte die Stirn. »Er kann doch nicht ernsthaft geglaubt haben, er könnte das Kind vor unser aller Augen entführen,
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