Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
entschwunden.
Wie nicht anders zu erwarten, ging er in die Offensive, bevor einer von uns etwas sagen konnte. »Ich fühle mich nackt ohne Tarnung«, murrte er. »Ramses, kannst du mir was Entsprechendes besorgen?«
Seine Bitte war verständlich. Obwohl unrasiert und hohlwangig, hatte er eine frappierende Ähnlichkeit mit Emerson – Kinngrübchen inbegriffen.
»Womit hattest du dich denn getarnt, als du herkamst?«, fragte ich und setzte mich auf den Bettrand.
»Mit einem langen grauen Rauschebart und einer geflickten Galabija. Fatima rückt sie bestimmt nicht wieder heraus.«
»Ah, die gute alte Bettler-Verkleidung«, entfuhr es mir. »Die hat sie sicher verbrannt.«
»In dem Bart hausten ein paar Flöhe«, räumte Sethos ein. »Authentizität ist immens wichtig in –«
»Keine Sorge. Ramses lässt sich da was einfallen«, fiel ich ihm ins Wort. »Später. Los, und jetzt erzähl.«
»Was denn?«
Aus Ramses’ Kehle rang sich ein missmutiges Grollen, genau wie bei seinem Vater, wenn der verärgert war. »Was hast du gemacht? Wer ist hinter dir her?«
»Eine ganze Menge Leute, schätze ich«, lautete die grinsende Antwort. Er fing Nefrets Blick auf und wirkte unvermittelt ein wenig betreten. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir haben den ganzen Morgen Zeit.« Ich glitt in den Polstersessel und nahm Papier und Bleistift zur Hand.
»Ihr wisst ja alle …«, begann Sethos. Er unterbrach sich und beäugte mich skeptisch. »Amelia, was machst du da?«
»Notizen, was sonst?«
Dank dieser Notizen und meines ausgezeichneten Erinnerungsvermögens bin ich in der Lage, dem Leser Sethos’ ausschweifende und ziemlich holprige Schilderung exakt wiederzugeben.
»Ihr wisst ja alle, wie die Situation im östlichen Mittelmeerraum seit dem Krieg ist. Die Großmächte haben das Osmanische Reich nach Gutdünken unter sich aufgeteilt. Frankreich will seine Interessen in Syrien nicht aufgeben. Die Engländer haben ein Mandat über Palästina, und Gertie Bell und ihr Haufen haben aus einer brisanten Allianz kriegerischer Fraktionen ein neues Königreich Irak zusammengebastelt, mit einem König, den keiner haben will, und einem britischen Oberkommissar. Den Kurden wurde Unabhängigkeit zugesagt, die Gertie ihnen nicht geben will, da Irak ohne Mosul und sein Öl nicht existieren kann. Der alte Fuchs Ibn Saud diskutiert über Grenzen und hofft auf die Kontrolle über Syrien. Als wenn das nicht genug wäre, spricht sich Großbritannien auf Druck der Zionisten für einen jüdischen Staat in Palästina aus. Also fürchten die Araber, dass die Zionisten ihnen ihr Land wegnehmen wollen, die Juden sind zwischen Zionisten und denjenigen gespalten, die einen weltlichen Staat wollen, die Arabische Liga fordert die Unabhängigkeit ein, die Lawrence versprach, und Fuad von Ägypten spielt politische Ränkespielchen nach altem osmanischem Muster.
Es kursieren Gerüchte über …« Er zögerte kurz, was nur denen auffiel, die Sethos gut kannten. »… eine Schattenorganisation, die aus bisher unerfindlichen Gründen Unfrieden stiftet. Was unter den gegebenen Umständen nicht weiter schwierig ist. Ich wurde nach Bagdad und Damaskus geschickt, um mich dort umzusehen. Ach übrigens«, setzte er ehrlich betroffen hinzu, »die archäologischen Stätten dort werden auf Teufel komm raus ausgeplündert. Niemand kümmert sich um illegale Grabungen, und einige wunderschöne Stücke kursieren bereits in Sammlerkreisen.«
Zwischen Ramses’ dunklen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Und deshalb hast du beschlossen, einige dieser wunderschönen Stücke zu ›retten‹? Und jetzt wirst du von Konkurrenten gejagt?«
»Nenn es, wie du willst«, konterte Sethos. »Aber das – äh – von mir entwendete Objekt war zufällig kein Kunstgegenstand. Ich fand es in den privaten Unterlagen eines gewissen Beamten in Bagdad.«
»Na, spuck’s schon aus«, drängte Ramses. »Wer?«
»Der Name sagt dir nichts. Er bleibt stets im Hintergrund, und nur die Wenigsten wissen, dass er eine Art Drahtzieher ist, der hinter den Kulissen agiert. Ich musste das verdammte Ding mitnehmen, weil ich es nicht kopieren konnte. Es war nämlich verschlüsselt und ich in Eile.«
»Wenn es kodiert war, woher wusstest du dann, dass sich ein Diebstahl lohnte?«
»Eben weil es kodiert war«, sagte Sethos übertrieben geduldig. »Und in einem verschlossenen Safe lag, den zu öffnen allergrößtes Geschick erforderte. Einen solchen Aufwand betreibt man bestimmt nicht
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