Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
Kusinen. Blieb Weihnachten grün, zogen sich die Ferientage ereignislos dahin, die Spaziergänge mit den Eltern lieferten keine Höhepunkte, außer einem Kinobesuch mit der Großmutter war nicht viel Aufregendes drin.
Amelie kniff die Augen zusammen, rollte sich im Bett Richtung Fenster, sagte laut: »Weiß oder grün?«, und riss die Augen auf. Trübes Licht fiel durch die große, dreieckige Fensterscheibe. Von ihrem Bett aus konnte sie die Wiesen rund um Anif sehen: grün. Sie waren grün.
Die netten jungen Leute, mit denen Amelie gestern bis Salzburg im Zug gefahren war, hatten Stein und Bein geschworen, dass es in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember schneien werde, anders lasse die Großwetterlage sich nicht interpretieren. Nach einem entspannten Heiligen Abend mit den Eltern war Amelie vor Mitternacht in ihr Zimmer unterm Dach gestiegen, war lange vor dem Fenster gestanden, hatte auf die stillen Wiesen gesehen und den bedeckten Himmel betrachtet und auf kindische Weise den heiligen Petrus beschworen: Lass es schneien, Alter. Wenn es heute Nacht schneit, ist das ein gutes Omen.
Kein Verlass auf den Kerl! Missmutig kletterte sie aus dem Bett und trat ans Fenster. Der Himmel war immer noch bedeckt, hing tief, man sah die Berge nicht. Saatkrähen, nichts als Saatkrähen.
Der Karpfen lag noch schwer wie ein Wackerstein in ihr. Idiotisch, diese Familientraditionen. Das absolute Muss am Heiligen Abend war Karpfen gebacken, mit Mayonnaisesalat. Obwohl ihn außer dem Vater niemand mochte.
Amelie sah auf ihre nackten Zehen nieder, die unter dem langen, karierten Flanellnachthemd hervorsahen und bewegte sie rhythmisch auf und nieder. Ein Ismakogiekundiger hatte ihr einmal verraten, dass beim Aufstellen der großen Zehen sich auch die Mundwinkel automatisch aufwärts bewegten. Sie trat vor den altmodischen Wandspiegel, der noch aus dem Besitz von Großmutter Amelie stammte und die sich spiegelnde Person in der Totale zeigte. Konzentriert bewegte sie die großen Zehen aufwärts und fixierte dabei ihren Mund. Keine Aufwärtsbewegung der Mundwinkel wahrnehmbar, wie denn auch…
»Amelie, Herzerl! Frühstück ist fertig!« Ohne schrill zu werden, überwand die Stimme von Lizzi Lenz zwei Stockwerke. »Ich komme, Mutter«, schrie Amelie zurück und wünschte sich für einen langen intensiven Augenblick nach Wien ins Salettl. Allein sein, nachdenken können, keine Stimmung vorgaukeln müssen, die man nicht empfand.
Lenzens frühstückten in der Küche. Das war schon immer so gewesen. Amelie liebte diese Küche. Sie war groß und hell und besaß neben einem Elektroherd einen behäbigen, verkachelten, mit Holz zu heizenden Ofen. Schon sein Anblick wärmte Amelies Herz. Sie streckte die Hände über der Herdplatte aus, fühlte die Hitze aufsteigen und gewahrte, wie sie sich entspannte. »Alsdann, was liegt an, und wie gehen wir vor«, fragte sie fröhlich.
Josef und Lizzi saßen bereits bei Tisch. Kaffee mit Schlagobers, Mohn und Nussstrudel. Tradition am Christtagsmorgen. Zum Ritual dieses ersten Weihnachtsfeiertages zählte auch das Mittagessen, zu dem Josef und die Seinen die restliche Lenz-Sippe baten. Tante Helene, die Witwe von Josefs älterem Bruder Karl; ihren Sohn Lorenz, unverheiratet; ihre Tochter Sissi, geschieden, Mutter eines heftig pubertierenden Achtzehnjährigen; und ihre Tochter Inge, verheiratet mit einem Landesbeamten, Mutter zweier Buben im Vorschulalter und schon wieder schwanger. Bis vor sechs Jahren hatte das Familien-Mittagessen am ersten Weihnachtstag im Hause von Karl und Helene stattgefunden. Nach Karls Tod hatte Josef nicht nur die Leitung der Offizine, sondern auch das Christtagsessen übernommen. Seither seufzte Lizzi, die gut, aber nicht gerne kochte, Jahr für Jahr das Gleiche: »Mein Gott, wenn’s nur schon vorüber wäre. Ein Horror, dieses Ganslbraten.«
»Was anliegt? Na was schon – ich muss das Gansl braten! Der reinste Horror«, schnaubte Lizzi. »Die Nachspeis ist fertig, die Suppen auch, wenn du mir die Griesnockerl machst und den Tisch deckst, wär ich froh.«
Amelie wusste, dass die Mutter ihr nur pro forma die Möglichkeit offen ließ, die Griesnockerln nicht zu machen und den Tisch nicht zu decken. Sie stieg unters Dach, duschte, zog einen ihrer festlicheren Mummus über und brachte ihr Zimmer in Ordnung, welches ursprünglich das Zimmer von Großmutter Amelie gewesen war. Erst nach deren unerwartetem Herztod vor zwei Jahren hatte sie begonnen, hier Quartier zu nehmen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher