Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
die Taktlosigkeit verteilte, hat sie zweimal ›hier‹ geschrien«, raunte er ihr ins Ohr. Als Amelie dankbar über seinen Arm strich, fuhr er leise fort. »Ich bin froh, dass du Hermann nicht heiraten wirst. Ihr habt nie zueinander gepasst.«
»Bist ein Lieber, Lorenz«, flüsterte Amelie zurück und lächelte ihn aus den Augenwinkeln an. »Weißt du, Hermann ist für mich kein wunder Punkt. Ich bin bloß wütend, dass mir keine gute Antwort auf Sissis Bosheit eingefallen ist.«
Mit der gewissen Verzückung, die manche Menschen bei längerer Betrachtung der Amelie Lenz befiel und die Uli Hahn mit ihrer »Schönheit auf den zweiten Blick« erklärte, beobachtete Lorenz das Gesicht der Kusine. »Ich mache morgen einen Renner um den Fuschlsee, kommst du mit?«, flüsterte er ihr zu und war ungemein froh, als Amelie heftig nickte.
Als die Familie durch das Gartentor entschwand, war es dunkel. Amelie scheuchte die müde Mutter ins Wohnzimmer und versicherte ihr, dass sie mit dem Abwaschen allein zurechtkommen werde. Sie ging in die Küche, legte die Hände auf die beinah erkaltete Herdplatte und starrte darauf nieder. Hermann. Nichts hatte sie empfunden, als Sissis unsubtile Bemerkung ihn unerwartet aufs Tapet brachte. Stattdessen hatte sie überfallartig eine Sehnsucht nach X erfasst. Als wäre er jemand, den sie gut genug kannte, um ihn schmerzlich zu vermissen.
Ungehalten wandte sie sich dem schmutzigen Geschirr zu, das sich allerorts türmte. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren so friedlich gewesen. An Hermann hatte sie gar nicht und an das Phantom kaum wahrnehmbar gedacht. Nun war sie wieder da, diese Unruhe, dieses drängende Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, um den Unbekannten rasch zu finden, weil sie ihn sonst für immer verlieren würde.
Sobald sie das gute Porzellan und die Gläser dem Geschirrspüler überantwortet hatte, riss Amelie das Fenster weit auf und stürzte sich mit wütender Heftigkeit auf Pfannen und Töpfe. Sie schrubbte die Herdplatten und wusch die Küchenkacheln und polierte das Silberbesteck. Das tat sie alles mit größtmöglichem Krafteinsatz, um sich abzureagieren. Als ihr nichts mehr zu tun blieb, war sie tatsächlich ruhiger geworden.
Im Haus war es still. Bis auf das Knacken der hölzernen Stiege und das Ticken der Uhren im Wohnzimmer. Und aus dem Studio drang das fallweise Zirpen einer Geige, die gestimmt wurde. Leise öffnete Amelie die Tür. Der Vater saß mit dem Rücken zu ihr vor dem Notenpult. Seine Wange schmiegte sich an den Geigenkörper, während er an den Saiten manipulierte. Die Mutter war in einem der Ohrenfauteuils eingenickt. Ihr Kopf war nach hinten gesunken, ihr Mund geöffnet, sie schnarchte leise.
Sie sieht wehrlos aus, dachte Amelie und hatte plötzlich das Gefühl, die Mutter schützen zu müssen. Ein ungewöhnliches Gefühl. Denn Lizzi war dafür bekannt, dass sie sich selbst und die Ihren zu schützen hervorragend im Stande war. Und wann war sie grau geworden? Mutters Haar, normalerweise im Nacken zu einem Knoten geschlungen, hatte sich gelöst. Gestern noch war es Amelie dunkel wie immer erschienen. Und heute ist es plötzlich grau? Schön ist sie noch immer. Obwohl nicht mehr jung, Pölsterchen um die Augen, Falten am Hals…Als Uli ihre Mutter zum ersten Mal gesehen hatte, war er völlig aus dem Häuschen gewesen. »Die Frau sieht ja toll aus, wie Katherine Hepburn!« Uli, der Gute. Er suchte gradezu zwanghaft Ähnlichkeiten mit Schauspielern. Amelie fand nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen Katherine Hepburn und ihrer Mutter. Aber schön war sie wohl. Klassisch geschnittenes Gesicht. Eindrucksvoll wie Mutters Vater. Wenn der Chirurg und Primararzt Diedrichs in seinem weißen Mantel durch die Gänge seiner Abteilung fegte, rasten die Pulse sämtlicher Krankenschwestern. Genauso hatte es Großmutter Amelie immer erzählt…Wie werde ich im Schlaf aussehen, wenn ich so alt bin wie Mutter. Wer wird mich ansehen, wenn ich schlafe – mein Mann, meine Kinder?
Leise schloss Amelie die Tür und stieg in die Mansarde hinauf. Vor dem Fenster lag Nebel. Auch in der kommenden Nacht würde es nicht schneien. Im Licht der Nachttischlampe glänzte Ulis Weihnachtspäckchen. Sie hob es auf und kratzte die Folie rund um das Auge zur Seite, bis der Titel zur Gänze sichtbar war. Das Lola-Prinzip . Um das Buch auszuwickeln, würde sie die schöne Verpackung zerreißen müssen. Die Folie raschelte, als Amelie sie zusammenknüllte. Der Umschlag des Buches
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