Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
lächelnd, in Wien sei das nicht nur vorstellbar, sondern gang und gäbe. »Auch ich bin in der Wohnung auf die Welt gekommen, in der ich heute noch lebe. In Wien zieht man nicht um, wenn man nicht muss.«
Mit den Augen suchte Amelie den Hausherrn. Er stand mit einer alten Dame neben einem prachtvollen Flügel, Bösendorfer, hatte Amelie im Vorübergehen festgestellt. Ein Klavier gehöre in jedes bürgerliche Haus, pflegte Josef Lenz zu sagen. ›Großbürgerlich, alles hier ist großbürgerlich‹, wandelte Amelie im Geiste ab. ›Salon, Klavier, Hausherr…die Art, wie er mit der alten Dame scherzt, nahezu flirtet, und die ihrem Alter angemessene Verehrung allein mit seiner Körperhaltung ausdrückt…‹ »Wohnt der Bruder von Doktor Bartenberg auch in diesem Haus?«, fragte sie nachdenklich.
Julius Hofeneder stand allein auf der Welt. Wie Menschen ohne Familie es mitunter tun, hatte er im Geiste eine befreundete Familie adoptiert: die Bartenbergs. Sie waren sein. Über sie wusste er alles. Wer wen wann geheiratet hatte. Wer wo welchen Beruf ausübte. Wer wann wo gelebt und wer wann wie gestorben war. »Heinrich Bartenberg ist schon einige Jahre tot«, setzte er an und fuhr bereitwillig und ausführlich fort: »Die Brüder haben das Haus zu gleichen Teilen geerbt und waren sich bezüglich der Aufteilung durchaus einig. Heinrich adaptierte den ersten Stock für sich. Leopold richtete sich zu ebener Erde ein. Aber dann haben sie geheiratet. Und ab da lief die Sache schief. Heinrichs Frau Franziska war auf Leopolds schöne Frau Thesi krankhaft eifersüchtig und wollte partout nicht im selben Haus mit ihr leben. Die Heinrichs sind mit ihrem kleinen Sohn Daniel von hier aus- und nie wieder hier eingezogen. Auch Thesis tragischer Tod konnte daran nichts ändern.«
Amelie hatte sich immer Geschwister gewünscht. Die Vorstellung, dass man welche hatte und sich mit ihnen nicht vertrug, wollte ihr nicht in den Kopf. »Wie traurig für Doktor Bartenberg.« Ihre Augenbrauen begannen zu schwingen. »Jetzt lebt er also schon jahrelang ganz allein in dem großen Kasten?«
Ganz so dramatisch sei es nicht, beruhigte der Hofrat. Daniel Bartenberg habe, nachdem auch seine Mutter gestorben war, den oberen Stock geerbt. Er verstehe sich ausgezeichnet mit seinem Onkel, ihm werde wohl dereinst auch Leopolds Haushälfte zufallen.
»Ah, der Neffe.« Amelie schmunzelte. »Der Mann, der eine schwierige Tochter und eine amerikanische Frau hat und Kreisel liebt.«
Das mit den Kreiseln verstand der Hofrat zwar nicht, aber vom Thema Bartenberg wollte er sich noch nicht trennen und geriet wieder in Fahrt. »Wie gesagt, Daniel und Leopold verstehen sich ausgezeichnet. Beruflich ebenso wie privat. Sie sind einander mehr als Neffe und Onkel, sie sind Freunde. Irgendwie tragisch nur, diese Geschichte mit Daniels Frau. Sie müssen wissen…«
Weiter kam er nicht. Unbemerkt von beiden hatte Leopold Bartenberg sich genähert und schob seinen Arm in den von Amelie. »Ich entführe Sie jetzt, meine Liebe«, sagte er und steuerte mit ihr in den angrenzenden Raum. »Julius hat lang genug den Vorzug Ihrer Gesellschaft genossen. Jetzt sind Sie mein.« Mit leiser Ironie setzte er hinzu: »Wenigstens für die Dauer des Konzerts.«
Der Raum, den Bartenberg mit ihr betrat, war die schönste und größte private Bibliothek, die Amelie je gesehen hatte. Locker hatten die zirka vierzig für das Publikum bestimmten goldenen Stühlchen in ihr Platz. Bartenberg führte Amelie zu einem Stuhl in der ersten Reihe und machte klar, dass er den Sitz zu ihrer Rechten einzunehmen beabsichtigte.
Während man sich setzte, postierten die Hausmädchen zwei Notenpulte und Stühle neben dem Flügel im Salon. Bartenberg nahm an der Tür zwischen den beiden Räumen Aufstellung und hieß seine Gäste mit der für ihn typischen Nonchalance noch einmal willkommen. Den britischen Botschafter und dessen Frau sprach er namentlich an. Als Amelie realisierte, dass Letztere rechts von Bartenbergs Stuhl platziert war, wurde ihr klar, dass der Hausherr sie, die junge Niemandin Amelie Lenz, mit voller Absicht auszeichnete. Mit einem Gemisch aus Genugtuung und leisem Unbehagen fragte sie sich, weshalb.
Als Bartenberg die Musiker ankündigte, bekam Amelie runde Augen. Am Klavier die Leonskaja. Geige Christian Altenburger. Cello Sven Boltenstern. Die spielten in einer anderen Liga als Josef Lenz und seine musikalischen Salzburger Freunde, die waren große Klasse. Ein Klaviertrio von Haydn
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