Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
Gamaschen und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob das Bild des gesichtslosen Novembermannes, das sie in sich trug, sich mit dem von Gregor Freytag deckte. Es gelang nicht. Gregor warf einen zu kräftigen Schatten über X. Sie konnte X weder hören noch fühlen noch riechen, weil sie nur mehr Gregor hören und fühlen und riechen konnte.
Eine Woche nach Gregors Abreise kehrte Uli nach Wien zurück. Er rief noch vom Flugplatz aus an, um sich mit Amelie zu verabreden. »Gleich heute Abend«, bat er. In seiner Stimme lag eine Dringlichkeit, die Amelie besorgte. Ob alles in Ordnung sei, wollte sie wissen. Er wehrte ab. Aber ja. Er sei bloß aufs Äußerste gespannt, was es mit dem Gamaschenmann auf sich habe.
Der Abend war lau. Ideal, um im Freien zu sitzen. Sie hatten sich auf das kleine Restaurant im Volksgarten geeinigt, bei trockenem Frühlings und Sommerwetter eine erste Adresse in der Stadt. Über den blechernen Tischchen und Lämpchen im Design der Fünfzigerjahre rauschte es in den Kronen alter Bäume. Dass einen daraus zuweilen ein Vogel bekleckste, nahm man in Kauf.
Nach Uli Ausschau haltend, wand Amelie sich zwischen den Tischen durch. Er saß ziemlich versteckt in einem Winkel des Gartens. Als er aufsprang und ihr zuwinkte, erschrak Amelie. Selbst im Dämmerlicht konnte sie erkennen, dass er abgenommen hatte und dass seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe dahin war. Grau sah er aus, und um seinen hübschen Mund hatten sich zwei Falten gegraben, die bei seiner Abreise definitiv noch nicht da gewesen waren.
Sie umarmten und setzten sich.
»Also, mein Hühnchen, erzähl dem alten Uli alles über den großen Unbekannten.« Er bemühte sich um den lockeren Ton, der zwischen ihnen üblich war, aber es klang gezwungen. Amelie hörte Kummer in seiner Stimme und schüttelte den Kopf.
»Nichts wirst du von mir erfahren, ehe ich nicht weiß, was mit dir los ist«, sagte sie bestimmt. Uli sah sie an, blickte wieder weg und begann, an seiner Unterlippe zu nagen. Amelie ließ nicht locker. »Na komm schon, mir machst du nichts vor, irgendetwas ist dir doch in Berlin zugestoßen.«
In Ulis Gesicht herrschte kurz Wetterleuchten, ehe der Dammbruch erfolgte und die ganze leidige Geschichte aus ihm herausbrach: Während der Probenarbeit in Berlin hatte ein blutjunger Schauspieler gebeten, Ludwig vorsprechen zu dürfen. Dieser wollte zunächst nicht, aber der Kerl war derart beharrlich gewesen, dass Ludwig schließlich nachgegeben hatte. Der Junge dürfte einen unglaublich sinnlichen Romeo hingelegt haben, denn Ludwig zeigte sich begeistert und von Stund an entschlossen, das Talent zu fördern. Offenbar hatte er gar nichts anderes mehr im Sinn, denn seine Arbeit in Berlin war längst abgeschlossen, aber er weilte weiterhin dort, arbeitete mit dem Jungen, hatte sich geweigert, mit Uli nach Wien zurückzukehren…
»Wie alt ist der Romeo?«, wollte Amelie wissen.
»Zweiundzwanzig«, knurrte Uli.
»Kennst du ihn?«
»Klar.«
»Wie sieht er aus?«
»Leider glänzend. Ein Adonis.«
»Wie heißt er?«
»Amadé.«
»Auch das noch«, entfuhr es Amelie. »Hat Ludwig mit ihm geschlafen?«
Früher hätte sie diese Frage nicht oder anders gestellt. Es war Gregor, der ihr einen umwegloseren Zugang zum Thema Sex geebnet hatte.
Uli schien sich nicht daran zu stoßen. »Ich bin nicht ganz sicher«, greinte er. »Ludwig streitet es ab. Aber er hat sich mir gegenüber verändert. Er ist geistesabwesend, er hört mir nicht zu, manchmal denke ich, er nimmt mich gar nicht mehr wahr. Als ich gesagt habe, dass ich es in Berlin nicht mehr aushalte, dass ich endlich heim möchte, hat er bloß die Achseln gezuckt und beiläufig ›o.k.‹ gesagt und hat mich allein fahren lassen.«
Aus ihren eigenen jüngsten Erfahrungen genährt, war Amelie überzeugt, dass Ludwig Berger sich im Liebesrausch mit Amadé befand. »Hör zu, mein Hähnchen«, versuchte sie den Freund aufzurichten. »Nehmen wir an, er hat eine Affäre mit dem Knaben – denkst du wirklich, dass ein Seitensprung eure Beziehung ernsthaft gefährden könnte?«
Das war ein Fehlschlag gewesen. In einer Mischung aus Verzweiflung und Empörung riss Uli beide Arme in die Höhe und japste: »Du bist nicht bei Trost – es wäre das Ende! Ich würde sterben!«
Amelie ließ sich nicht beirren. »Sei nicht läppisch, an so etwas stirbt man nicht«, sagte sie streng. Sie beugte sich über das Tischchen, griff nach Ulis Händen und hielt sie mit den ihren fest. »Hähnchen, bleib
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