América
wäre er im Gerichtssaal, und Delaney nahm ihm das übel. Hatte er ihn deshalb mitgenommen - um ihn auf seine Seite zu ziehen? Jim Shirley, der hier der offizielle Horrorgeschichtenerzähler zu sein schien, wollte gerade anheben, Sunny DiMandias Schicksal in all seinen grausigen Einzelheiten zu schildern, da hörte Delaney seine eigene Stimme in die Pause hineintönen: »Wovon redest du eigentlich, Jack? Reicht dir das Tor noch nicht? Als nächstes willst du wohl eine Mauer hochziehen, wie im Mittelalter oder so ...«
Delaney hatte mit Gelächter gerechnet, mit zustimmendem Murmeln von ein oder zwei Leuten, oder damit, daß wenigstens irgendwer das Absurde dieses Vorschlags bestätigte, doch er erntete nichts als Schweigen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Urplötzlich fühlte er sich unsicher, der Geist der Kameraderie hatte sich in Sekundenschnelle aufgelöst. Eine Mauer hochziehen. Genau das hatten sie vor. Deshalb waren sie hier zusammengekommen. Das war der Zweck des Treffens.
»Wir alle beten für Sunny«, begann Jim Shirley in diesem Moment, »und nach den letzten Prognosen ihrer Ärzte sieht es auch so aus, daß sie sich bald wieder vollkommen erholt haben wird, aber wer immer letzte Woche bei ihr eingedrungen ist - ein Mann oder mehrere, die Polizei ist da noch nicht sicher -, hat sie jedenfalls übel zugerichtet, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht, denn ich weiß gar nicht, ob eine Frau über so etwas jemals ganz hinwegkommen kann ...« Er hielt inne und stieß einen tiefen, rasselnden Seufzer aus. Seine Hand hob sich zum Gesicht, feucht und teigig, und er drückte sich den Drink gegen die Stirn wie ein nasses Tuch. »Ihr alle kennt Sunny, oder?« fuhr er schließlich fort und hob den Kopf, um in die Runde zu blicken. »Ein Prachtweib, wirklich großartig. Zweiundsechzig Jahre, und dabei eine der aktivsten in der Gemeinde.« Wieder ein Seufzer, ein grimmiges Zusammenpressen der feisten Kiefer. »Sie hat die Tür zum Garten offengelassen, das war ihr Fehler. Weil sie glaubte, hier oben sei es sicher - was für eine Ironie des Schicksals, was?«
»Es war unser erstes Gewaltverbrechen«, warf Jack ein. »Das erste - und wir sollten verdammt noch mal dafür sorgen, daß es auch das letzte war.«
»Amen«, sagte Jim Shirley, und dann ging er daran, jedes einzelne, schaurige Detail zu schildern, und er ersparte seinen Zuhörern nichts.
Delaney blendete ihn innerlich aus. Er betrachtete den Gastgeber, der es sich in der Ecke einer pastellfarbenen Couch bequem gemacht hatte, die nackten Beine auf den Beistelltisch gelegt, und sich geistesabwesend an der Wade kratzte. Beim ersten Drink an der Bar hatte Jack verkürzt erläutert, welchem Zweck das Gerät an Floods Knöchel diente. Anscheinend war Flood einer von Jacks Mandanten, ein guter Mann, ehrgeizig, und seine Bank - sie besaß in der Gegend drei Filialen, die er persönlich geleitet hatte - war in einige unkluge Investitionen verwickelt worden, wie Jack es ausdrückte. Das Gerät, eine Leihgabe aus dem Haft-im-eigenen-Heim-Programm des Gerichtsbezirks Los Angeles County, war ein elektronischer Bewegungsmelder, den er die nächsten drei Jahre Tag und Nacht tragen mußte. Delaney hatte es kaum fassen können. »Drei Jahre?« hatte er geflüstert und die schwarze Plastikfessel an Floods Knöchel respektvoll betrachtet. »Du meinst, er darf drei Jahre lang nicht sein Haus verlassen?« Jack hatte darauf nur knapp genickt: »Besser als Gefängnis, findest du nicht?«
Während Jim Shirley weiterschwadronierte, praktisch jede widerliche Einzelheit des tätlichen Angriffs auf Sunny DiMandia begeiferte - die Frau begann für Delaney mythische Dimensionen anzunehmen, denn er kannte sie ebensowenig wie die Königin von Saba oder Hillary Clinton -, beobachtete Delaney aus den Augenwinkeln Dominick Flood. Drei Jahre ohne einen Spaziergang im Wald, ohne Essen im Restaurant, nicht mal ein Gang durch den Supermarkt war erlaubt: einfach unglaublich. Und doch: falls er den Radius von fünfzig Metern überschritt, den sie ihm gestatteten, würde irgendwo ein Summer losgehen, und die Polizei würde anrücken, um ihn abzuholen und an einem Ort mit weitaus weniger Annehmlichkeiten als hier einzubuchten. Kein Wunder, daß er gerne über die freie Natur las - er selbst würde davon noch lange Zeit nicht viel mehr sehen als den Zaun in seinem Garten.
Die Unterhaltung kreiste eine Zeitlang um Sunny DiMandia - man drückte Betroffenheit, Empörung, Entsetzen und
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