América
nach allem, was passiert war ... es war zuviel gewesen, eines der schlimmsten Erlebnisse ihres Lebens, vielleicht das allerschlimmste. Und Jordan - er war ja noch ein kleines Kind, warum mußte er so etwas mit ansehen? Dr. Reineger hatte ihr ein Beruhigungsmittel verschrieben, sie war einen Tag lang nicht ins Büro gegangen, und Jordan brachten sie für eine Weile zu seiner Großmutter - sie konnte ihn einfach nicht in diesem Haus lassen, unmöglich. Am nächsten Tag saß sie an ihrem Schreibtisch, fühlte sich konfus, als wären ihr Verstand und ihr Körper über den Sommer in verschiedenen Schubladen verpackt worden, als das Telefon klingelte.
Es war Jack. »Ich hab das von eurem kleinen Hund gehört«, sagte er, »und es tut mir sehr leid.«
Sie mußte heftig schlucken, die ganze Szene lief vor ihrem inneren Auge zum tausendstenmal ab, dieses widerliche schleichende Vieh, der nutzlose Zaun, und Osbert, der arme Osbert, aber sie kämpfte dagegen an und schaffte es, eine Antwort zu krächzen: »Danke.« Mehr brachte sie nicht heraus.
»Wirklich furchtbar«, sagte Jack. »Ich weiß, wie dir zumute sein muß.« Mit diesem Ritual fuhr er noch ein, zwei Minuten fort, dann kam er zur Sache. »Hör zu, Kyra«, begann er, »ich weiß, daß nichts deinen Hund wieder zurückbringen kann, und ich weiß, wie weh dir das alles tut, aber es gibt etwas, das du unternehmen könntest.« Und dann hatte er das mit der Mauer erläutert. Er und Jack Cherrystone, Jim Shirley, Dom Flood und noch ein paar andere hielten es für eine gute Idee, rings um die ganze Wohnanlage eine Mauer hochzuziehen - nicht nur um Vorfälle wie diesen zu verhindern und Schlangen, Taschenratten und ähnliches Ungeziefer fernzuhalten, sondern auch im Hinblick auf die zunehmende Kriminalität und die Einbrüche, die mittlerweile mit schöner Regelmäßigkeit stattfanden - hatte sie übrigens schon das von Sunny DiMandia gehört?
Kyra war ihm ins Wort gefallen: »Wie hoch soll diese Mauer denn sein, Jack? Fünf Meter? Oder zehn? Die Chinesische Mauer? Denn wenn zweieinhalb Meter Maschendraht sie nicht abhalten, dann verschwendest du mit der Mauer nur deine Zeit.«
»Wir reden von zwei Meter zwanzig, Kyra«, sagte er, »wobei alle sicherheitstechnischen und wirtschaftlichen Fragen voll berücksichtigt sind.« Sie hörte Büromaschinen im Hintergrund summen, ein Telefon läutete in der Ferne. Dann fuhr er fort: »Hohlblocksteine, mit einem Feinputz in Navajoweiß. Ich weiß, daß Delaney prinzipiell dagegen ist - ohne die Sache je richtig durchdacht zu haben -, aber zufällig habe ich neulich mit dem Coyotenexperten an der Uni hier gesprochen - Werner Schnitter heißt er -, und der meinte, eine verputzte Mauer wäre die Lösung. Also - ohne dir jetzt noch mehr Schmerz bereiten zu wollen ... aber wenn sie den Hund oder die Katze gar nicht sehen können, dann besteht für sie auch keinerlei Anreiz, diese Mauer überwinden zu wollen, kannst du mir folgen?«
Das konnte sie. Und obwohl sie nie, niemals wieder einen Hund haben würde, wollte sie diese verhaßten, widerwärtigen Hundekiller von ihrem Grundstück fernhalten, ganz egal, was dazu nötig war. Sie hatte immer noch eine Katze. Und einen Sohn. Genau: und wenn sie nun als nächstes Menschen anfielen?
»Sicher, Jack«, sagte sie schließlich. »Ich helfe dabei. Sag mir nur, was ich tun soll.«
Sie fing gleich nach der Arbeit mit Delaney an. Er hatte einen Salade Niçoise zum Abendessen gemacht und sich dabei wirklich Mühe gegeben, den Thunfisch hauchzart angebraten und eigenhändig die Artischockenherzen mariniert, aber sie konnte nur darin herumstochern. Ohne Jordan und Osbert wirkte das Haus wie eine Totengruft. Die Spätnachmittagssonne färbte die Wand über dem Tisch, in einem Ton, der sie an nichts so sehr wie an Hühnerleber erinnerte - hühnerleberrosa -, und sie bemerkte, daß die Blumen in der Vase auf dem Sideboard verwelkt waren. Draußen vor den Fenstern erklang freudloses Vogelgezwitscher. Sie schob den Teller weg und unterbrach Delaney mitten in einem Monolog über irgendeinen kleinen Singvogel, den er auf dem Zaun beobachtet hatte, ein Thema, das sie auf höchst durchsichtige Weise von Osbert, Coyoten und den brutaleren Realitäten der Natur ablenken sollte. »Jack hat mich gebeten, bei der Sache mit der Mauer mitzumachen«, sagte sie.
Delaney erstarrte vor Verblüffung. Er war gerade dabei gewesen, eine Scheibe von dem Baguette abzuschneiden, das er in der französischen Bäckerei in
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