América
sie auch war, sie war doch fasziniert von dem Spektakel - besonders von den Frauen. Sie beobachtete sie verstohlen, Frauen in ihrem Alter, manche etwas älter, die angezogen waren wie Gringas, mit Stöckelschuhen und Nylonstrümpfen, und América betrachtete ihre Kleidung und die Art, wie sie sich frisierten und schminkten. Es gab auch alte Frauen, in rebozos und farblosen Kleidern, und niños, die auf ihren Skateboards dahinrasten, Arbeiter, die in Dreier- und Vierergrüppchen vorüberschlenderten, den Blick auf irgendeine ferne, unerreichbare Vision weit vor ihnen im Dunst der endlosen Straße gerichtet. Und der Verkehr - er war ganz anders als das Gerase auf der Cañonstraße. Hier bewegte er sich wie eine feierliche Prozession gemächlich von Ampel zu Ampel, und es waren alle möglichen Autos darunter, von aufgemotzten Cadillacs und Jaguars bis zu klapprigen alten Fords und Chevrolets und VW-Bussen und winzigen silbernen Autos, die vorbeiflitzten wie ein Schwarm Fische im Meer. Nach all den Wochen ohne jede Zerstreuung, in denen sie nichts zum Ansehen gehabt hatte als Blätter und noch mehr Blätter, war die Stadt wie ein spannender Film, der vor ihren Augen ablief... Auch die zweite Viertelstunde war noch kein Problem, obwohl sie bereits etwas Kribbliges an sich hatte, ein heißes, schmerzendes Stechen der Angst, die das Verstreichen jedes einzelnen Sechzig-Sekunden-Abschnitts untermalte. Wo ist Cándido? Dieser Gedanke schlich sich allmählich in ihr Bewußtsein, und auch dessen Abwandlung: Was macht er nur so lange? Trotzdem war sie froh, auf der Steinmauer zu sitzen und dem Alptraum der Blätter entronnen zu sein, und sie war zufrieden oder doch fast zufrieden. Die Menschen waren komisch. Die Autos sahen schön aus. Hätte sie sich nicht so unwohl gefühlt und wären ihre Füße nicht voller Blasen gewesen und hätte sie gewußt, wo sie diese Nacht schlafen könnte, oder wenigstens etwas zu essen gehabt - irgend etwas, eine Scheibe Brot, eine kalte Tortilla -, dann wäre ihr das Warten einerlei gewesen, völlig einerlei.
Im Schaufenster des Reparaturgeschäfts für Haushaltsgeräte gegenüber war eine Uhr, und als der große Leuchtzeiger sich der dritten Viertelstunde näherte, wurde ihr bewußt, daß ihre Übelkeit in nagende, heftige Hungerkrämpfe übergegangen war. Sie blickte auf ihre Füße und sah, wie angeschwollen sie unter den Riemen ihrer Sandalen waren (die sie schon zweimal gelockert hatte), und plötzlich war sie so müde, daß sie sich am liebsten auf die harte Betonmauer gelegt und die Augen geschlossen hätte, nur eine Minute lang. Aber das durfte sie natürlich nicht - so etwas taten nur Penner und Bettler, vagos und mendigos. Trotzdem, allein bei dem Gedanken daran, sich nur eine Minute lang hinzulegen, sah sie das Bett vor sich, das versprochene Bett im Haus der Tante dieses chicano, und dabei dachte sie wieder an Cándido, und wo blieb er nur?
In der letzten Viertelstunde tauchte aus dem Nichts ein Mann in speckigen Kleidern auf und setzte sich neben sie auf die Mauer. Er war alt, hatte einen Ziegenbart und glotzte sie durch eine mit fransigem schwarzem Klebeband zusammengehaltene Brille an. Sie roch ihn, noch ehe sie sich umwandte, und da saß er, keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt. Sie hatte gerade zwei Mädchen in Jeans und Stöckelschuhen nachgesehen, die Oberteile aus schwarzer Spitze trugen und sich das Haar mit Spray hoch aufgetürmt hatten, doch auf einmal drehte der Wind, und es roch wie auf der Müllhalde von Tijuana. Der Alte stank nach Urin, Erbrochenem, seiner eigenen Scheiße, und seine Kleider - drei oder vier Hemden übereinander, ein langer Mantel und mindestens zwei Paar Hosen - waren mit Öl und Fett getränkt wie eine gebratene Banane. Er sah sie nicht an, sprach nicht mit ihr, aber er bestritt eine Unterhaltung mit jemandem, den nur er sehen konnte - mal mit kaum hörbarer Stimme, mal jäh aufbrausend und in merkwürdigem Spanisch, einem so seltsamen Dialekt, daß sie nur hier und da einzelne Bruchstücke aufschnappte. Er schien mit seiner Mutter zu reden - mit der Erinnerung an seine Mutter, mit dem Geist, der vagen Kontur dieser Frau, die in die Bildplatte seines Gedächtnisses eingeprägt war -, und es lag echte Dringlichkeit in der verworrenen Botschaft, die er für sie hatte. Er brabbelte ununterbrochen vor sich hin. América rutschte von ihm weg. Als der Leuchtzeiger die volle Stunde erreichte, war er verschwunden.
Dann begann die zweite Stunde, und
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