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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sie fühlte sich verloren und verlassen. Die Sonne ging unter, am Himmel erstarb ein Streifen Licht nach dem anderen, die Ladenfronten flimmerten und glühten wäßrigsilbern, wie senkrechte Pfützen, die entlang der Straße aufgestellt waren. Es waren jetzt weniger Leute auf der Straße, und América fand sie nicht mehr komisch oder auch nur interessant. Sie wollte, daß Cándido zurückkam, sonst nichts, aber was war, wenn er einen Unfall gehabt hatte? Wenn er verletzt war? Wenn La Migra ihn geschnappt hatte? Zum erstenmal, seitdem sie auf der Mauer saß, wurde ihr die Realität ihrer Situation bewußt: Sie hatte kein Geld, kannte keinen Menschen, würde nicht einmal den Rückweg zu ihrer jämmerlichen Behausung im Cañon finden. Und wenn Cándido nun gar nicht mehr wiederkam, wenn er einem Herzanfall erlegen oder wieder von einem Auto angefahren worden war? Was dann?
    Nach eineinhalb Stunden, als immer noch keine Spur von ihm zu sehen war, stand América auf und ging in die Richtung, in der Cándido mit dem chicano verschwunden war, dabei sah sie sich alle paar Schritte um, ob er durch irgendein Wunder vielleicht aus einer anderen Richtung käme. Sie ging an Antiquitätengeschäften vorbei, düsteren, unübersichtlichen Läden, die mit alten, düsteren Möbeln vollgestopft waren; dann kam ein Geschäft mit Fischen in allen Farben, die in so reinem Wasser schwammen, dais es wie Luft aussah; dann eine geschlossene, verrammelte Imbißbilde, ein Autoersatzteilladen, in dem hektischer Betrieb herrschte. Nach dem Autogeschäft bog sie nach links in die Straße ein, in der auch Cándido verschwunden war. Es war eine sehr belebte Seitenstraße, unter der gelben Beleuchtung rasten Autos mit ratternden Stoßdämpfern und quietschenden Reifen vorbei. Sie sah Gruppen von Männern, die auf dem Parkplatz hinter dem Autogeschäft herumsaßen, Gringos und Latinos gleichermaßen, vor ihren riesigen Autos mit weit aufgeklappten Kühlerhauben und laufenden Motoren, und die Musik dröhnte aus den Stereoanlagen, daß der Gehsteig bebte. Sie würdigten América kaum eines Blickes, und sie war zu schüchtern, zu ängstlich, um zu fragen, ob sie Cándido, ihren verlorenen Ehemann, und diesen anderen Mann gesehen hätten. Danach kamen eine Buchhandlung und ein paar andere Läden, und dann nur noch Wohnhäuser.
    Es wurde dunkel. Die Straßenlampen gingen an. In den Häusern leuchteten die Fenster über den dunklen Hecken, den nun farblosen Blumen, den Bougainvilleen und Glyzinien, die im Zwielicht grau wirkten. Cándido war nirgends zu sehen. Keine Spur von ihm. Das Baby bewegte sich in ihrem Bauch, und sie verspürte Übelkeit und ein Flattern im Magen. Sie wünschte sich nichts so sehr, wie in eines dieser Häuser zu gehören, in irgendeines, wenigstens für eine Nacht. Die Menschen, die in diesen Häusern wohnten, hatten Betten, um sich darauf auszustrecken, sie hatten Toiletten mit Wasserspülung, heißes und kaltes Wasser, und vor allem waren sie zu Hause, in ihrem eigenen privaten Reich, sicher vor der Außenwelt. Aber wo war Cándido? Wo war das Zimmer, das er ihr versprochen hatte, das Bett und die Dusche? Es war beschissen, richtig beschissen. Schlimmer als das Leben im Haus ihres Vaters, hundertmal schlimmer. Sie war eine Närrin gewesen, von dort fortzugehen, auf die Geschichten zu hören, die Filme anzusehen, die dummen novelas zu lesen, und eine noch größere Närrin war sie gewesen, die verheirateten Frauen in Tepoztlán zu beneiden, deren Männer ihnen so viel mitbrachten, wenn sie aus dem Norden nach Hause zurückkehrten. Kleider, Schmuck, einen neuen Fernseher - aber so etwas gab es hier nicht. Das gab es hier: dreckige Straßen und Obdachlose, und beim Pinkeln brannte es.
    Endlich, nachdem sie auch in allen Straßen, die von der Seitenstraße abzweigten, gesucht hatte, kehrte sie zur Mauer vor dem Postamt zurück. Sie wußte nicht, was Cándido passiert war - sie traute sich nicht einmal, darüber nachzudenken -, aber dort würde er nach ihr suchen, und deshalb mußte sie eben sitzen bleiben und Geduld haben, ganz einfach. Jetzt aber war es dunkel, es war Nacht geworden, und es waren wieder mehr Fußgänger unterwegs - Gruppen von Teenagern, junge Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die auf der Pirsch waren. Niemand beschützte sie, niemand paßte auf sie auf. Sie sah immer wieder die Tiere an der Grenze vor sich, den Halbgringo, seine häßlichen Augen und seine widerlichen, tastenden Finger und den dicken

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