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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Metallbehälter stand direkt neben der Hintertür, und er verströmte einen Geruch, an dem sie sofort erkannte, was es war.
    Cándido verblüffte sie. Er ging direkt auf das Ding zu, klappte den Deckel auf, ohne den dunklen, schnellen Schatten zu beachten, der darunter hervorschoß und zwischen den Zaunlatten verschwand. Sofort begriff sie: Müll, sie würden Müll essen. Im Abfall stöbern wie basueros auf der Müllhalde und den Dreck fressen, den andere Leute weggeworfen hatten, voller Speichel und Maden und Ameisen. War er verrückt geworden? Hatte er durch den Schlag auf den Kopf den Verstand verloren? Sogar in ihren schlimmsten Zeiten, selbst auf der Müllhalde von Tijuana hatten sie es noch geschafft, ein paar Centavos zusammenzukratzen, um sich auf der Straße heiße Maiskolben und Brühe zu kaufen. Sie stand wie erstarrt am Rand des Platzes und sah entsetzt und ungläubig zu, wie Cándido sich tief in die Tonne hineinbeugte, bis seine Beine den Halt am Boden verloren und er strampelnd das Gleichgewicht zu bewahren versuchte. In ihr brannte eine Empörung, die sich von all den grausamen Enttäuschungen des Tages nährte und schließlich zu einer lodernden Weißglut wurde, so daß sie losstürmte und die Fingernägel in sein Bein grub. »Was tust du da?« fragte sie in heiserem Flüsterton, den sie kaum beherrschen konnte. »Was um Gottes willen tust du da?«
    Seine Beine strampelten. Sie hörte ihn in der Tiefe der Tonne ächzen. Irgendwo heulte ein Automotor auf, sie zuckte zusammen und ließ sein Bein los. Wenn sie nun jemand erwischte? Sie würde sterben vor Scham. »Ich rühr das nicht an, diesen Dreck«, zischte sie den fuchtelnden Beinen, dem breiten, wackelnden Hintern zu. »Lieber verhungere ich.« Wütend trat sie einen Schritt näher, und wieder stieg ihr der Gestank in die Nase: Schimmel, Fäulnis, Verwesung und Schmutz. Am liebsten hätte sie ihn in die Tonne gestoßen und den Deckel zugeknallt, irgend etwas zerschlagen, mit den Fäusten auf die Mauer eingetrommelt.
    »Kann sein, daß du so leben kannst, aber ich nicht«, sagte sie und kämpfte darum, leise zu sprechen. »Ich komme aus einer anständigen Familie, die hundertmal besser ist als du und deine Tante, und mein Vater, mein Vater ...« Sie verstummte. Die Luft ging ihr aus, sie war schwach, und sie hatte das Gefühl, gleich losheulen zu müssen.
    Ein längeres Stöhnen drang aus dem Inneren der Tonne, dann tauchte Cándido wieder auf, suchte tastend mit den Füßen nach Halt und schob sich rückwärts aus dem Müllcontainer heraus wie ein Krebs. Er wandte sich ihr zu, sein Gesicht war grau wie Eisen im grellen Schein des Flutlichts, und sie sah, daß seine Arme überquollen mit rotweiß gestreiften Pappkartons, kleinen Dingern wie Pralinen- oder Zigarrenschachteln. Fett, sie roch das Fett. Bratfett. Kaltes, altes Bratfett. »Dein Vater«, sagte er und hielt ihr dabei eine der Schachteln hin, »ist tausend Kilometer weit weg.«
    Er sah sich rasch um, erneut besorgt, erstarrte einen Moment lang, entspannte sich wieder. Seine Stimme klang jetzt milder. »Iß doch, mi vida«, sagte er. »Du wirst es brauchen, damit du bei Kräften bleibst.«

8
    An der Ostküste kam der Herbst mit einem Schwall kanadischer Luft, belebend und entschieden. Das Laub wechselte die Farbe. Der Regen fiel in kalten grauen Strichen, und die Pfützen überzog nachts eine zweite Haut. Die Welt schloß, machte es sich in Höhlen und Bauen gemütlich, und die Tagundnachtgleiche war ein bedeutsames Datum. Hier aber, in den ausgeglühten Hügeln von Los Angeles, war der Herbst bloß eine weitere Facette des unendlichen Sommers, nur noch heißer und trockener, er fegte durch die Cañyons als sengender Sturm, der sämtliche Feuchtigkeit aus den Steppenpflanzen leckte und leicht entflammbare Öle aus den Poren der Äste und Zweige treten ließ. Es war die Jahreszeit, mit der Delaney die größten Probleme hatte. Was war schon empfehlenswert an Temperaturen von knapp vierzig Grad, null Prozent Luftfeuchtigkeit und diesem Wind, der einem feinste Körnchen von zerriebenem Sandstein in die Nasenlöcher blies, sobald man vor die Haustür trat? Was war reizvoll daran? Andere Autoren konnten die herbstlichen Rituale Neuenglands oder der Great Smoky Mountains abfeiern - den Zugvögeln zusehen, die sich am Himmel sammelten, Holz fürs Kaminfeuer hacken, die Apfelpresse zum Mostmachen putzen oder schlaftrunkenen Bären in den kahlen Wäldern nachpirschen, wo schon der erste feuchte Duft

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