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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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architektonischer Plan durch den Kopf geschossen, und er wußte, er mußte sie haben. Wenn das Schicksal ihm eine Wohnung vorenthielt, na gut, dann würde er sich eben ein Haus bauen, ein Haus mit Aussicht.
    Er arbeitete wie wild, im Wettlauf mit der Zeit, sah alle paar Sekunden auf, um auf den entvölkerten Straßen nach den ersten Autos Ausschau zu halten. Mit den Paletten ließ sich gut arbeiten - sie waren quadratisch, mit rund einem Meter Seitenlänge -, sie paßten aneinander wie Bauklötze. Fünfzehn zusammengenagelte Paletten ergaben die Wände seines Hauses. Die Rückwand und die Seiten waren jeweils zwei Stück breit und zwei Stück hoch, und an der Vorderfront hatte er einfach eine Palette weggelassen, um ein Schlupfloch zu erhalten. Dann legte er im Inneren vier Paletten als Fußboden auf der Erde aus, damit sie bei Regen nicht im Dreck stehen mußten, und er sah, daß er die sieben Zentimeter breiten Zwischenräume zwischen den Palettenbrettern mit Zeitungen und Lumpen zustopfen und isolieren konnte. Es war eine gute Konstruktion, besonders angesichts der Tatsache, daß er sie einer Eingebung des Augenblicks folgend zusammengepfuscht hatte, mit zitternden Fingern, pochendem Herzen und stets mit einem Auge in Richtung Straße, aber es fehlte ihm das Wesentlichste: ein Dach.
    No problema. Cándido hatte schon eine Lösung, falls ihm Zeit blieb, aber die mußte ihm bleiben, er mußte Hunger und Erschöpfung niederkämpfen und alles herbeischaffen, bevor die Menschen zurückkamen und sich mißtrauisch umsahen, nach Dieben und Feuerteufeln, nach Mexikanern. Das Wichtigste aber war América. Der Morgen verstrich - es war bestimmt schon neun oder gar zehn -, und er konnte nicht länger riskieren, sie im Schuppen zu lassen. Er hastete den Hang hinunter, versuchte dabei gleichzeitig, die Balance zu halten und sich vor den Hubschraubern zu ducken, und zweimal stürzte er, fiel kopfüber in die Büsche, riß sich dabei das Gesicht auf, Zweige und Fasern blieben auf seiner Haut haften, und es juckte ihn überall, als wäre er das Opfer eines Schuljungenstreichs. Am Himmel hing tief der graue dichte Rauch. Es ging kein Wind, und die Sonne war kaum stark genug, um Schatten zu werfen. »América«, rief Cándido leise vor der Schuppentür. Zur Antwort miaute die Katze, und dann erscholl der gepreßte Schrei des Babys, ein neuer Ton in einer völlig neuen Welt. »América«, wiederholte er, und als sie ihm mit ihrer leisen, klebrigen Stimme antwortete, sagte er: »Wir müssen jetzt weg, mi vida, hier können wir nicht bleiben.«
    »Ich will nicht hier weg.«
    »Mach keine Schwierigkeiten, bitte nicht. Die suchen nach mir, das weißt du doch.«
    »Ich will heim zu meiner Mutter«, sagte sie, und ihr Gesicht war geschwollen und rot, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. »Ich will ihr mein Baby zeigen. Ich kann so nicht leben. Du hast mir was versprochen - du hast es versprochen.«
    Er trat zu ihr, ging neben ihr in die Hocke und legte ihr den Arm um die Schulter. Es brach ihm das Herz. Er hielt es nicht aus, mit anzusehen, wie seine Tochter Entbehrung litt und seiner Frau alles verwehrt wurde. »Es ist nicht weit«, flüsterte er, und als seine Lippen die Worte formten, ließ ihn das Geräusch einer Autohupe - drei laute Töne - aus der Ferne zusammenfahren. »Komm doch, bloß ein Stück den Berg rauf.«
    Cándido nahm mit, was er tragen konnte - ein paar Säcke mit Grassamen als Lager, später würde er mehr holen -, und half ihr, den steilen Hang zu erklimmen. Sie war noch schwach, und ihr Haar sah aus wie das einer Verrückten, verfilzt und knotig und mit Pflanzenstücken darin. Als plötzlich ein Helikopter über dem Gipfel auftauchte, der dann seitlich abdrehte, wollte sie sich erst nicht ducken, aber er drückte ihren Kopf auf die Erde. Das Baby gab keinen Ton von sich. Sie war der kleinste Mensch der Welt, ein Gesicht aus urzeitlicher Vergangenheit, die Augen im hellen Licht zusammengekniffen, und sie hing an der Brust ihrer Mutter, als wäre sie noch mit ihr verbunden, als wäre sie noch ein Teil von ihr. Cándido staunte - seine Tochter, und sieh mal an, wie brav sie war, dabei war sie kaum acht Stunden alt.
    »Was ist das hier?« wollte América wissen, als er sie in den Pferch ohne Dach hineinschob, und aus ihrer Stimme war die Zufriedenheit gewichen.
    »Nur für einstweilen«, sagte er, »nur bis diese Sache vorbei ist.«
    Sie widersprach ihm nicht, obwohl er sah, daß sie es eigentlich wollte. Aber sie war

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