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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Höhe und über die Mauer, kniete aber gleich darauf wieder im Gebüsch.
    »Okay, Butch, okay, Hundi«, rief eine Stimme im Nachbargarten, und da stand die Frau an der Hintertür, und ein riesiger schwarzer Schäferhund sprang auf die Veranda und die Stufen zum Rasen hinunter. Als er zu bellen begann - ein dumpfes, grollendes Gebell -, glaubte Cándido, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, und rollte sich instinktiv zusammen wie ein Fötus, um Kopf und Genitalien zu schützen, aber der Hund bellte nur die Frau an, die jetzt mit dem Arm ausholte, um einen gelben Tennisball zu werfen. Sie warf den Ball, und der Hund sprang hinterher und brachte ihn zurück. Und noch einmal. Und noch einmal.
    Cándido drückte sich unter den Büschen im Nachbargarten auf den Boden. In der Ferne ertönten Rufe, das Geräusch von aufheulenden und absterbenden Motoren, Kinderstimmen, mehr Hundegebell: sie kamen zurück, alle kamen zurück, und es konnte nur kurze Zeit dauern - wenige Minuten vielleicht -, bis auch zu diesem Haus jemand zurückkehrte, das Fehlen seines Gewächshausdachs bemerkte und in den Garten ging, um nachzuforschen. Cándido mußte handeln, und zwar rasch, und er dachte fieberhaft nach, seine Gedanken rasten, als ihm ein weiteres Problem bewußt wurde: er hatte keine Möglichkeit, über die Mauer zu gelangen.
    Nebenan bellte der Schäferhund wieder los, eine wilde, sabbernde Symphonie von Gebell, und die Frau warf den Ball ein letztesmal und ging zurück ins Haus. Das war Cándidos Chance. Er wartete und sah zu, wie der Hund den Ball ein paarmal hin und her stieß, den Kopf in die teppichlose Hundehütte steckte und es sich dann auf dem Rasen bequem machte, um auf dem Ball herumzukauen wie auf einem Knochen. Dann kroch er wie ein Guerillakämpfer an dem Gewächshaus vorbei, das Becken dicht auf die Erde gepreßt, und schob sich durch eine Lücke in der Oleanderhecke auf das nächste Grundstück.
    Dieser Garten lag still da, niemand war zu Hause, der Pool so unbewegt wie eine volle Badewanne, der Rasen feucht vom Tau. Aber diesen Garten kannte er doch? Hatte er nicht hier mit Al Lopez den Zaun gezogen? Er erinnerte sich an die Eiche, na sicher, diesen Großvater von Baum, aber wo war der Zaun? Er richtete sich vorsichtig auf, und dann sah er die kahlen Stellen im Rasen, wo sie damals die Pfosten gesetzt hatten - diese gabachos, nie waren sie mit irgendwas zufrieden -, aber er sah noch etwas viel Interessanteres: eine Trittleiter. Aus Aluminium. Direkt an die Mauer gelehnt. Im Handumdrehen war er drüben und schlug sich auf der andern Seite durchs Gestrüpp, tief geduckt, und auf einmal wurde er zornig, raste vor Wut, ließ die Plastikplatte einstweilen liegen und schlich weiter, bis er die Hundenäpfe und den Teppich fand, schob sich alles unter den Arm - und scheiß auf den Hund, er haßte diesen Hund, und scheiß auf seine fette Besitzerin; die konnten sich doch neue Näpfe und einen neuen Teppich kaufen, und wen kümmerte es hier schon, wenn ein armer Pechvogel und seine Frau und Tochter einfach verhungerten, direkt vor ihren Nasen? Er würde kein schlechtes Gewissen mehr haben, er würde um nichts mehr bitten - er würde sich einfach nehmen, was er brauchte.
    Er versteckte den Teppich und die Näpfe - Kochtöpfe, das waren jetzt seine Kochtöpfe - im Unterholz, die konnte er später holen, dann machte er kehrt und ging zu der Stelle, wo die grüne Plastikplatte zu Boden gefallen war. Sein Dach. Festes Plastik, das den Regen abhielt, und der Regen würde bald kommen, er konnte ihn riechen, trotz des Gestanks nach Asche und schwelendem Holz. Eine vorbeiflatternde Krähe verhöhnte ihn. Die Sonne verblaßte im Dunst. Und Cándido ging daran, trotz seiner Erschöpfung, trotz allem, das große, sperrige Plastikding durch das unwegsame Gelände nach oben zu zerren, und während die Zweige an ihm rissen, seine Finger langsam steif wurden und er vor den über ihm dahindonnernden Hubschraubern Deckung suchte, dachte er an Christus mit dem Kreuz und der Dornenkrone, und er fragte sich, wer wohl das schlimmere Los zu tragen hatte.
    Später, nachdem er das Dach auf seine Hütte gehievt und am halben Berghang das Gestrüpp abgehackt hatte, um es darüberzubreiten und so ihr Obdach vor neugierigen Augen zu schützen, schlief er ein. Es war ein tiefer Schlaf der vollständigen Entkräftung, aber es war kein traumloser Schlaf. Besonders nicht gegen Ende, als die Nacht hereingebrochen war und er ein halbes dutzendmal aufwachte

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