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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zu müde, zu verängstigt, und so sank sie in einer Ecke nieder und nahm die Orange, die er ihr reichte.
    Er wollte es eigentlich nicht mehr riskieren, noch einmal über die Mauer zu steigen - er sah die ersten Autos auf der Cañonstraße funkeln, als er erneut den Hang hinunterlief -, aber er mußte es tun, nur noch ein einziges Mal. Er hatte im Nachbargarten jenseits des Schuppens mit dem Werkzeug etwas gesehen, das er sich noch ausleihen mußte, ehe es zu spät war. Mit einem Satz sprang er auf das Schuppendach, von dort spähte er vorsichtig über die Mauer in den Garten dahinter, behielt die Fenster des Hauses im Blick. Kein Anzeichen von Bewegung war zu sehen, obwohl er die Autos seit geraumer Zeit hören konnte - ein paar Minuten, mehr blieb ihm nicht -, aber diesmal würde er nicht wieder hinüberspringen, ohne zu wissen, wie er zurückkommen sollte, oder? Doch, das tat er. Er konnte nicht anders. Über die Mauer, sofort niedergeduckt, und er sah die große Hundehütte in einer Ecke des Gartens und die beiden tiefen Aluminiumnäpfe - einer mit Wasser, der andere mit Trockenfutter -, und er steckte den Kopf in die Hütte und sah den hübschen grünen Teppich aus Wolle, der für den Hund darin ausgebreitet war. Den würden sie vermissen, ganz sicher, und die Alunäpfe auch, aber Cándido war ein Mensch, Vater einer Tochter, und das war nur ein Hund. War es böse, war es Sünde, war es moralisch unvertretbar, einem Hund etwas zu stehlen? Wo in der Bibel stand das geschrieben?
    Er warf das ganze Zeug über die Mauer und stürmte durch die Hecke in den Nachbargarten, und da war es schon, das Objekt seiner Begierde, das Ding, für das er gekommen war: ein Dach, sein Dach. Es war eine große Platte aus grünlichem Hartplastik, leicht gewellt, um das Regenwasser abzuleiten, und es war nicht einmal fest verbunden mit dem kleinen Treibhaus, das unter den buschigen Feigenbäumen direkt neben dem Swimmingpool stand - nicht befestigt, sondern einfach nur darübergelegt. Er stand einen Moment lang reglos und abgekämpft da und betrachtete es, und die Feigen schienen ihm geradezu in die Hände zu fallen, dann waren sie in seinem Mund, weich und süß und mit dicker bitterer Schale. Sein ganzes wahnwitziges beschissenes Pech und die schrecklichen Strapazen des vergangenen Tages und der Nacht forderten allmählich ihren Preis, und er stand wie angewurzelt da und starrte dümmlich in das Schwimmbecken. Es war ein kleiner Pool, nicht mehr als eine Pfütze im Vergleich zu dem großen See in der Mitte der Wohnanlage, aber er sah hübsch aus, oval und blau, ein kühles, sauberes Blau, das Wasser so rein, daß es durchsichtig war, bis auf den feinen Aschefilm auf der Oberfläche. Wie schön wäre es doch hineinzuspringen, dachte er, nur eine Sekunde lang, um sich von dem Dreck und dem Schweiß und den kohlschwarzen Rußstreifen zu reinigen, die ihn von Kopf bis Fuß überzogen wie eine Hyäne ... Doch dann ertönte ein Geräusch hinter ihm, draußen auf der Straße - das Knallen einer Autotür, Stimmen -, er fuhr zusammen und sprang hinter das Treibhaus.
    Die Plastikplatte war unhandlich, zu groß für das Treibhaus, zu groß auch für seine kleine Hütte, aber er konnte sie unmöglich zurechtschneiden, und die Stimmen wurden jetzt lauter, kamen näher. Er zog heftig, und als nächstes lag er auf der Erde und rappelte sich unter dem Ding auf. Das Plastik war nachgiebiger, flexibler, als er gedacht hatte, und dadurch um so schwerer zu handhaben. Dennoch gelang es ihm, die Platte über den Rasen zur Mauer zu schleifen, und er wollte sie gerade hochwuchten, um sie hinüberzuwerfen, als im Haus nebenan ein Fenster hochgeschoben wurde, und er erstarrte. Ein Gesicht, das Gesicht einer Frau, erschien in der Fensteröffnung, und sie sah in den Garten hinaus, in dem inzwischen Werkzeug, vier Sack voll Obst und Gemüse, ein Großbehälter mit Hundefutter, zwei Aluminiumnäpfe und ein Stück Teppich fehlten.
    Cándido wagte nicht zu atmen, er betete, daß die Büsche zwischen den Gärten ihn vor den fremden Augen abschirmten. Er betrachtete das Gesicht, wie er ein Porträt in einer Galerie betrachtet hätte, prägte sich jede Furche und jede Falte ein, wartete auf die Veränderung darin, den erstaunten, erschrockenen, haßerfüllten Blick, aber die Veränderung trat nicht ein. Nach kurzer Zeit verschwand das Gesicht der Frau wieder im Haus. Im selben Moment schleuderte Cándido mit einer raschen Bewegung der Schulter das Plastikdach in die

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