Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
heranrasende blaue Fahrerkabine eines Pick-up-Lasters, hinter der Scheibe ein erstarrtes Frauengesicht, zu einem Bild von unentrinnbarer Wucht verschmolzen, dann aber, im allerletzten Moment, wich der Wagen aus und vollführte ein jähes, quietschendes, kreischendes Schleudermanöver, bei dem er gegen die Leitplanke krachte und im Rückprall das Heck seines Acura Vigor GS traf - seines neuen milchweißen Acura Vigor GS mit braunen Ledersitzen und nur sechstausendzweihundertsiebenundzwanzig Kilometern auf dem Tacho -, bis er schließlich in all seiner bebenden, breiten Mächtigkeit zum Stillstand kam. Und der Mexikaner? Der war unversehrt und trabte auf der anderen Straßenseite davon, während neben ihm die Autoschlange hektisch bremste, laut hupte und Stoßstangen sich ineinander verkeilten. Es war der Alptraum jedes Pendlers. Es war Delaneys Alptraum. »Hallo, hallo - sind Sie noch dran?« rief eine Stimme aus dem Telefon.
    Delaney rief nicht Kyra an. Er rief auch nicht Jack an. Er dachte nicht an Kenny Grissom, die Reparaturwerkstatt oder seine Versicherung. Während der Regen wieder einsetzte, ein dichter Nieselregen, der in alle Poren sickerte, stand er am Straßenrand und war in einen Wortwechsel mit der Frau aus dem Pick-up verwickelt. Sie war fuchsteufelswild, zitterte am ganzen Leib, bleckte die Zähne wie ein in die Enge getriebenes Nagetier und stampfte mit den Füßen im Schlamm auf. »Haben Sie nicht mehr alle?« fragte sie. »Sind Sie total verrückt, einfach hier anzuhalten, halb auf der Fahrbahn? Und was ist mit Ihrem Freund da los - ist der besoffen, oder wie? Geht direkt vor mir über die Straße, ohne nach rechts oder links zu sehen. Sie sind alle beide betrunken, das ist es, und glauben Sie mir, Sie stecken in der Patsche, Mister, denn ich werde der Polizei sagen, daß die Sie mal pusten lassen, einen Alkotest gleich hier auf der Stelle ...«
    Der Polizist, der zwanzig Minuten später eintraf, war mürrisch und gehetzt. Er befragte Delaney und die Frau getrennt voneinander über den Unfallhergang, und Delaney versuchte ihm von dem Mexikaner zu erzählen, aber der Polizist hatte kein Interesse.
    »Ich sage Ihnen doch, es war dieser Mexikaner - er ist verrückt, der wirft sich vor Autos, weil er die Versicherung kassieren will, es ist derselbe, und ich habe auch ein Foto von ihm, ich habe ihn vor Arroyo Blanco erwischt, da wohne ich nämlich, und da hatten wir vor kurzem großen Ärger mit diesen Graffitischmierereien.«
    Sie saßen im Streifenwagen, Delaney auf dem Beifahrersitz, der Polizist beugte sich über seinen Notizblock und schrieb umständlich seinen Bericht in einer ungelenken Linkshänderschrift. Das Funkgerät rauschte und knisterte. Der Regen ergoß sich in Bächen über die Windschutzscheibe, trommelte auf das Dach, es goß jetzt wie aus Eimern. Unfälle wurden gemeldet, auf der Küstenstraße, der Malibu Canyon Road, der 101, der Sprecher in der Zentrale klang wie betäubt von der Monotonie der Katastrophen. »Ihr Fahrzeug hat den Verkehr behindert«, sagte der Polizist schlußendlich, und das war's.
    Delaney wartete in seinem Auto auf den Abschleppwagen; er zeigte dem Fahrer seine Mitgliedskarte beim Autoclub und schlug die angebotene Mitfahrt aus. »Ich geh zu Fuß«, sagte er, »sind ja bloß ein paar Kilometer.«
    Der Fahrer sah ihn einen Moment lang scharf an, reichte ihm dann eine Quittung und zog die Tür zu. Der Regen hatte nachgelassen, aber Delaney war bereits bis auf die Haut durchnäßt, seine Gore-Tex-Jacke hing ihm von den Schultern wie ein klammer Pelz, das Haar klebte ihm auf der Stirn und schlotterte als glatte rötliche Fransen um seine Ohren. »Wie Sie wollen«, sagte der Mann durch den Fensterspalt, und dann stapfte Delaney den Straßenrand entlang, während die bleiche Karosserie seines Autos im Nebel verschwamm. Er marschierte, aber diesmal marschierte er nicht nur, um irgendwohin zu gelangen, wie an jenem sengendheißen, grenzenlosen Sommermorgen, als ihm sein erster Wagen gestohlen worden war - diesmal hatte er etwas vor. Diesmal - er wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte über die Straße -, diesmal verfolgte er eine Fährte am matschigen Straßenrand, unverkennbare Fußabdrücke, die deutlich sichtbar im Profil einer Reifenspur verliefen.
    Kyra konnte kaum noch die Straße sehen. Der Regen hatte abrupt eingesetzt und ihr die Sicht geraubt, wie ein fallender Vorhang am Ende eines Stückes, und ihr blieb keine andere Wahl, als die Warnblinkanlage

Weitere Kostenlose Bücher