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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einen Mexikaner sah.
    Cándido stand zwei Stunden lang dort und versuchte, die Aufmerksamkeit von jedem Pritschenwagen auf sich zu lenken, der bei der Holzhandlung vorfuhr, inzwischen so verzweifelt, daß es ihm gleichgültig war, ob ihn La Migra aufgriff oder nicht, aber niemand würdigte ihn auch nur eines Blickes. Die Füße taten ihm weh, sein Magen knurrte. Er fror. Es mußte etwa halb fünf gewesen sein, als er es endlich aufgab und sich auf den Rückweg machte, immer auf der Suche nach Dosen zum Abgeben, und dabei nahm er sich vor, wieder einmal das Risiko einzugehen und seinen Kopf in den Müllcontainer hinter dem Laden des paisano zu stecken - er mußte etwas mit zurückbringen, irgendwas. Hm und wieder warfen sie eine Tüte Zwiebeln weg, die nichts weiter als ein paar schwarze Flecken hatten, oder Kartoffeln, die gekeimt hatten - man wußte es nie. Er hielt den Kopf gesenkt, sah auf seine Füße und stellte sich vor, daß diesmal vielleicht Fleisch darin wäre, das gar nicht so schlecht schmeckte, wenn man es lange genug kochte, oder ein paar Knochen und Fettabfälle von Rindfleisch, als ein Auto direkt vor ihm in einer abrupten Vollbremsung auf der Bankette zum Stehen kam.
    Er erstarrte und dachte sofort an den Unfall von damals, nasse Straßen, ein norteamericano in Eile, immer waren sie in Eile, und jetzt hupte das nachfolgende Auto, ein schriller mechanischer Fluch, denn das hintere Ende des ersten Wagens, der von der Straße abgefahren war, ragte auf die Fahrbahn, und die endlose Schlange von Autos, die mit hektischen Scheibenwischern und grellen Scheinwerfern den Berg hinauffuhren, mußten dem Hindernis ausweichen. Aber da öffnete sich die Tür des Wagens, wieder hupte jemand, und Cándido schmeckte das Gift eines Déjá-vu: dieses unvermeidliche Weiß, die feuerroten Bremslichter und der orangefarbene Blinker, das alles kam ihm bekannt vor. Und ehe er noch reagieren konnte, stand er da: derselbe pelirrojo, der ihn vor vielen Monaten überfahren hatte und der dann seinen häßlichen, schlaksigen pelirrojo von Sohn den Cañon hinuntergeschickt hatte, um ihn zu schikanieren und zu quälen, und seine Miene drückte nichts als Bosheit aus. »He!« brüllte er. »Stehengeblieben!«

7
    »He!« brüllte Delaney. »Stehengeblieben!«
    Er war auf dem Weg von der Gärtnerei an der Küstenstraße den Berg heraufgekommen, den Kofferraum mit Ammoniumsulfat und Rasensamen vollgeladen, die Sicht aus dem Rückfenster von zwei Arecapalmen versperrt, die im Eingangsbereich stehen sollten, als er den Mexikaner sah: die hochgezogenen Schultern, das wettergebleichte Khakihemd, die hellen Sohlen der dunklen Füße zwischen den Riemen seiner Sandalen. Automatisch, ohne zu überlegen, bremste er - konnte das der Mann sein, war er es? -, riß das Lenkrad herum und spürte die Hinterräder ausbrechen, während der Fahrer hinter ihm auf die Hupe drückte, und dann schlitterte er unter einem Wirbel von Kieselsteinen auf den Straßenrand. Das Heck seines Wagens ragte auf die Straße hinaus. Es war Delaney egal. Er kümmerte sich nicht um die Gefahr, auch nicht um die übrigen Autos, die nasse Straße oder seine Versicherungsprämie - er dachte an nichts als an diesen Mexikaner, diesen Mann, der in sein Leben eingedrungen war wie ein hartnäckiger Parasit, wie eine Seuche. Hier, fast an derselben Stelle, hatte er sich ihm damals vor die Räder geworfen, alles wiederholte sich, und diesmal würde Delaney ihn nicht entwischen lasen, diesmal hatte er einen Beweis, einen fotografischen Beweis. »Stehengeblieben!« schnarrte er und tippte dabei die Nummer der Polizei in das Autotelefon, das er von Kyra als verfrühtes Weihnachtsgeschenk bekommen hatte.
    Der Mexikaner stand benommen da, hagerer und verbitterter, als Delaney ihn in Erinnerung hatte, die schwarzen Augen blickten erschrocken, der buschige Schnurrbart machte seinen Mund zu einer Wunde. »Hallo?« keifte Delaney in den Hörer, »mein Name ist Delaney Mossbacher, und ich möchte ein Verbrechen melden - oder nein, vielmehr die Festnahme eines Verdächtigen - auf der Topanga Canyon Road, kurz vor Topanga Village, ein Stück unterhalb von ...« Doch ehe er zu Ende sprechen konnte, setzte sich der Verdächtige in Bewegung. Der Mexikaner sah Delaney an, sah auf das Telefon in seiner Hand, und dann ging er einfach über die Straße, mitten in den Verkehr hinein, wie ein Schlafwandler.
    Delaney sah entsetzt zu, wie die dürren Beine und der gebeugte Körper des Mexikaners und die

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