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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schienen hier ein wenig aufrechter zu stehen, ihr Laub wirkte reingewaschen von Staub, Rußpartikeln, Kohlenwasserstoffen und dem ganzen übrigen Zeug, das die Luft in den letzten sechs Monaten angesammelt hatte. Es war eine schöne Landschaft - schöne Liegenschaften -, und sie fühlte sich besser.
    Die Straße gabelte sich und wurde schmaler, ein Überbleibsel des unbefestigten Fahrwegs, die sie früher gewesen sein mußte; hier hatten die Rancher ihr Heu oder so zum Viehfüttern transportiert und mit ihren Ford-A- oder -T-Modellen schmale Fahrspuren in die Innenseiten der Haarnadelkurven gegraben, Holzöfen und Kerzenlicht, freilaufende Hühner - Kyra wußte nicht genau, wie es kam, aber sie wurde von der Vision einer vergangenen Zeit gepackt, die sich zu gleichen Teilen zusammensetzte aus den Titelseiten der Saturday Evening Post, Wiederholungen von Lassie und einer nostalgischen Sehnsucht nach Dingen, die sie nie gekannt hatte. Die Leute hier lebten wirklich mitten im Nirgendwo - verglichen damit war Arroyo Blanco ja wie Pershing Square im Zentrum. Es war erstaunlich. Sie hatte nicht gewußt, daß es hier so viel Raum gab - keine acht Kilometer vom Highway 101 entfernt, keine Frage, und auch nicht mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig von der Stadtgrenze, wenn überhaupt. War das eigentlich noch das Los Angeles County, oder war sie schon darüber hinaus?
    In diesem Augenblick, als sie völlig entspannt nachdachte, den Tag, die Aussicht und die Jahreszeit genoß, fiel ihr das unauffällige Schild am Anfang einer asphaltierten Einfahrt auf, die in einen Eukalyptuswald hineinführte, gleich hinter der Abzweigung zum Gomado Canyon: Von Privat Zu Verkaufen. Sie fuhr daran vorbei, durch den blaugrauen Nebel, der die Straße einhüllte, aber dann überlegte sie es sich anders, wendete und fuhr zurück zu der Einfahrt. Das Schild war nicht sehr aussagekräftig -  Von Privat Zu Verkaufen, mehr nicht, darunter eine Telefonnummer. War hier ein Haus zu verkaufen? Eine Ranch? Eine Villa? Nach der Größe der Eukalyptusbäume zu urteilen - riesige alte, bleiche Relikte mit wahren Bergen aus abgeblätterter Rinde zu ihren Füßen -, gab es den Besitz nicht erst seit gestern. Aber wahrscheinlich steckte nichts dahinter. Wahrscheinlich war es nur ein alter Hühnerstall, von dem die Farbe abblätterte, mit ein paar rostigen Autowracks dahinter - oder ein Wohnanhänger.
    Sie saß vor der Einfahrt in ihrem Wagen, der im Leerlauf brummte, das Fenster offen, der frische süße Atem des Regens wehte ihr ins Gesicht, und sie sah zu, wie die silbrigen Eukalyptusblätter im Nebel verschwanden und wieder auftauchten. Es war zwanzig vor fünf. Der Mutter des Jungen - Karen, oder hieß sie Erin? - hatte sie gesagt, sie käme Jordan um fünf abholen, aber sie verspürte immer noch keinen Zeitdruck. Es war Weihnachten, oder kurz vor Weihnachten, und es regnete. Außerdem hatte die Frau - Karen oder Erin - am Telefon sehr nett geklungen und gemeint, es sei alles kein Problem, Kyra könne kommen, wann sie wolle, die beiden Jungs spielten so schön miteinander - und schließlich wußte man nie, was am Ende einer Einfahrt stand, wenn man sich nicht die Zeit nahm, nachzusehen. Das Schild war eine Aufforderung, oder? Natürlich war es das. Eine Immobilie. Sie drückte den Tageskilometerzähler, schaltete den Blinker ein, sah zur Sicherheit über die Schulter und fuhr auf die Einfahrt.
    Sie ließ das Fenster offen, um den feuchten, üppigen, ganz schwach nach Menthol riechenden Duft der auf dem Asphalt zerquetschten Eukalyptuskapseln einzuatmen, und ließ ihre Augen alle Einzelheiten aufnehmen: Bäume und noch mehr Bäume, ein richtiger, tiefer, verhangener Eukalyptuswald, und überall zwitscherten Vögel. Nach knapp einem Kilometer überquerte sie auf einer steinernen Brücke einen Bach, der vom Gewitter starkes Hochwasser führte, fuhr durch eine lange, geschwungene Kurve und sah das Haus. Sie war so verblüfft, daß sie unvermittelt bremste, hundert Meter davor stehenblieb und es anstarrte. Hier, mitten in der Wildnis, auf mindestens viereinhalb Hektar Grund, stand eine gemauerte und verputzte dreistöckige Villa, die direkt aus Beverly Hills importiert sein könnte, oder noch besser, aus einem Dorf in Südfrankreich.
    Der Stil war französischer Eklektizismus, einfaches Understatement, von einer kultivierten Eleganz, die das dahingeschiedene Da-Ros-Haus im Vergleich überladen, ja geradezu protzig wirken ließ. Das Gebäude war eine

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