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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Kostümjacke schlüpfte und ihren Lexus auf die andere Seite des Cañyons nach Woodland Hills lenkte, wo sie in Mike Benders Immobilienbüro die unbestrittene Umsatzkönigin war. Und dann, endlich, würde Delaney wieder heimfahren, sich eine Tasse Kräutertee und zwei Scheiben Toast machen, ohne Butter, und den Tag um sich herum zur Ruhe kommen lassen.
    Wenn es auf der Schnellstraße keinen Unfall gab und auch kein Straßenbautrupp die allgegenwärtigen Plastikkegel entweder irgendwo aufstellte oder einsammelte, war er um neun zu Hause und saß an seinem Schreibtisch. Das war der Augenblick, für den er lebte und an dem sein Tag erst richtig begann. Unweigerlich und ungeachtet aller Sachzwänge oder Notfälle, die ihn bedrängen mochten, widmete er die nächsten vier Stunden dem Schreiben -vier Stunden, in denen er die Außenwelt vergaß, während seine Finger über die Tasten huschten und ihn der grüne Schein des Bildschirms in sein hypnotisches Licht tauchte. Er legte den Telefonhörer neben den Apparat, zog die Jalousien herunter und kroch hinein in den warmen Bauch der Sprache.
    Dort, in der Stille des leeren Hauses, schuf Delaney das Grundgerüst seiner monatlichen Kolumne für die Zeitschrift Wide Open Spaces - Beobachtungen eines Naturfreundes, der den Wandel des blühenden Lebens von Tag zu Tag und im Wechsel der Jahreszeiten im Auge hat. Er nannte sie »Pilger am Topanga Creek«, zu Ehren von Annie Dillards Buch, und wenn er auch weder über ihre mystische Verbundenheit mit den Dingen noch über ihre verbale Virtuosität verfügte, so meinte er sich doch von seinen Mitmenschen insofern zu unterscheiden, als sein Blick tiefer ging und seine Empfindungen leidenschaftlicher waren - vor allem jene für die Natur. Und jeden Tag von neun bis eins hatte er Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen.
    Natürlich ging es an manchen Tagen besser als an anderen. Er versuchte sich auf Flora und Fauna des Topanga Canyon und die Berge der Umgebung zu beschränken, neigte aber immer mehr dazu, über das Los von NevadaZahnkarpfen, Florida-Seekuh, Fleckenkauz, Ozelot, Fichtenmarder und Pandabär zu sinnieren. Und wie konnte er größere Trends außer acht lassen - die Überbevölkerung, den Vormarsch der Wüsten, das Leerfischen der Meere und Abholzen der Wälder, den Treibhauseffekt und das Schrumpfen der Biotope? In Amerika ging es ja noch, sicherlich, aber es war doch verrückt zu glauben, man könne sich vom Rest der Welt abschotten, jener Welt des Hungers und des Mangels und der stetigen unbarmherzigen Zerstörung der Umwelt. Fünfeinhalb Milliarden Menschen machten sich wie die Heuschrecken über die Ressourcen des Planeten her, und im ganzen Universum gab es nur noch dreiundsiebzig Exemplare des kalifornischen Kondors.
    Es stimmte ihn nachdenklich. Es deprimierte ihn. An manchen Tagen war er dermaßen bedrückt, daß er kaum die Hände zur Tastatur heben konnte, aber zum Glück überwogen die guten Tage, an denen er seine nachmittäglichen Wanderungen durch das dichte Gebüsch und in die engen Schluchten zwischen den nebelverhangenen Bergen zelebrierte, und das war es, was die Leser wollten - Zelebration, keine Tiraden, keinen schrillen Aufruf zum Ökokrieg, weder Totenglocken noch umweltbewußtes Jammern und Zähneklappern. Die Welt war voll mit schlechten Nachrichten. Wozu noch mehr davon?
    Die Sonne war bereits dabei, den Dunst aufzulösen, als Jordan in die Küche geschlurft kam, die Katze auf den Fersen. Jordan war sechs Jahre alt und vernarrt in Nintendo, Superhelden und Baseball-Sammelkarten, hatte allerdings, soweit Delaney wußte, außer Besitz und Erwerb von Hochglanzbildern der Spieler keinerlei Interesse an Baseball. Im Gesicht ähnelte er seiner Mutter, ebenso sein erstaunlich helles Haar, das so blond war, daß es fast durchschimmernd wirkte. Vielleicht war er groß für sein Alter, vielleicht auch klein - Delaney fehlten die Vergleichsmöglichkeiten.
    »Kiwis«, sagte Jordan, ließ sich auf seinen Stuhl am Tisch plumpsen, und das war alles. Delaney konnte nicht beurteilen, ob das ein Ausdruck von Zustimmung oder Widerwillen war. Aus dem Wohnzimmer kam die elektronische Stimme des Nachrichtensprechers: Siebenunddreißig chinesische Staatsbürger wurden heute früh in San Francisco Opfer des organisierten Menschenschmuggels, als ihr Schiff kurz nach dem Passieren der Golden Gate Bridge auf Grund lief ... Draußen, direkt vor dem Fenster, kläffte wieder einer der Hunde.
    Jordan fing an, mit dem Löffel in

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