América
wachte auf, döste wieder ein. Und jedesmal, wenn er emporschaute, war die Sonne an der gleichen Stelle am Himmel, wie festgepinnt, als wäre die Zeit stehengeblieben. América war irgendwo da draußen. Alles mögliche konnte ihr widerfahren. Wie konnte er schlafen, auch nur einen Augenblick der Ruhe finden, mit diesem Schreckensbild vor sich?
América. Der Gedanke an sie brachte ihm ihr Gesicht vor Augen, ihr offenes, unschuldiges Gesicht, ein Kindergesicht noch, mit diesem Blick, der direkt in einen hineinströmte, und mit dieser sanften, gehauchten Stimme, wie die allererste Stimme, die man im Leben hörte. Er kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war, vier Jahre alt, die jüngste Schwester von Resurrección, seiner Frau. Bei seiner Hochzeit war sie ein Blumenmädchen gewesen, und sie hatte auch selbst wie eine Blume ausgesehen, braune Gliedmaßen, die aus den weißen Blütenblättern ihres Kleides sprossen. Er und Resurrección gaben sich an jenem Tag das Jawort, er war zwanzig Jahre alt und hatte gerade neun Monate in el Norte verbracht, auf den Kartoffeläckern Idahos und den Zitrusplantagen Arizonas gearbeitet, und in Tepoztlán war er wie ein Gott. In neun Monaten hatte er mehr verdient - und die Hälfte davon per Postanweisung nach Hause geschickt -, als sein Vater mit dem Lederwarengeschäft in seinem ganzen Leben. Ehe er aufgebrochen war, hatte ihm Resurrección versprochen, auf ihn zu warten, und sie hielt ihr Wort. Dieses Mal jedenfalls.
Doch mit jedem Jahr wurde ihr das Warten länger, und sie veränderte sich. Alle veränderten sie sich, die Ehefrauen, und wer mochte es ihnen verübeln? Denn drei Viertel des Jahres wurden die Dörfer von Morelos zu Frauendörfern, fast völlig verlassen von ihren Männern, die nach Norden zogen, um richtiges Geld zu verdienen und acht oder zehn oder zwölf Stunden am Tag zu arbeiten, statt in der cantina zu hocken und ewig an ein und demselben Bier zu nippen. Ein paar Männer blieben natürlich - die, denen ein Laden gehörte, die Narren und die von Haus aus Reichen -, und einige von ihnen hatten keine Skrupel und nutzten die Einsamkeit der verlassenen, liebeshungrigen Frauen aus, um ihren Männern Hörner aufzusetzen, während diese im Land der Gringos den Rücken krumm machten. Einen »Señor Gonzales« nannte man diese Schänder der scheintoten Ehen, manchmal auch nur »Sancho« - wie etwa in »Sancho hat deine Frau vernascht«. Es gab sogar ein Verb dafür - sanchear, das hieß: sich einschleichen wie ein Wiesel und einen braven, untadeligen Mann zum cabrón machen.
Und nachdem er sieben Sommer fort und dazwischen sechs kalte Winter zu Hause gewesen war, in denen er sich nur als halber Mann fühlte, weil Resurrección einfach nicht von ihm schwanger werden wollte, was sie auch probierten - und sie probierten es mit chinesischen Stellungen, mit Hühnertalg, den sie während des Verkehrs auf ihren Bauch rieben, mit Kräutern und Tränken von der curandera und mit Injektionen vom Doktor -, erfuhr Cándido bei seiner Heimkehr, daß seine Frau jetzt in Cuernavaca lebte, mit einem Sancho namens Teófilo Aguadulce. Sie war im sechsten Monat schwanger und hatte alles Geld, das Cándido ihr geschickt hatte, für ihren Sancho und dessen mächtigen Durst auf Bier, Pulque und scharfen Schnaps verpraßt.
Es war América, die ihm die Neuigkeit überbrachte. Cándido kam an die Haustür seines Schwiegervaters, beladen mit Geschenken und überglücklich, wieder daheim zu sein, der große Held und Wohltäter des halben Dorfes, ein braver Neffe dazu, der für die Schwester seiner Mutter ein neues Haus gebaut hatte, und auch jetzt hatte er in seiner Tasche ein brandneues Stereoradio für sie dabei, aber es war niemand zu Hause - bis auf América, elf Jahre alt und scheu wie ein Jaguar, der ein Schwein mit den Zähnen gepackt hält. »Cándido!« rief sie und warf sich ihm in die Arme, »hast du mir was mitgebracht?« Er hatte eine Glaskugel für sie, dann eingeschlossen die Figur eines gaba cho-Weihnachtsmanns und künstlicher Schnee, der ihn in einen Blizzard hüllte, wenn man die Kugel schüttelte - aber wo waren die anderen? Eine Pause, sie entwand sich ihm, vollführte mit der Schneekugel einen zögerlichen Tanz durch das Zimmer: »Sie wollten dich nicht treffen.« Was? Wollten ihn nicht treffen? Sie machte einen Scherz, wollte ihn aufziehen, sehr witzig. »Wo ist Resurrección?«
Damit begann seine Zeit in der Hölle. Er nahm den nächsten Bus nach Cuernavaca, machte
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