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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Teófilo Aguadulces Haus ausfindig und trommelte sich an den geschlossenen Fensterläden die Hände wund. Er durchstreifte die Straßen, forschte in den cantinas, auf den Märkten, im Kino, aber er fand keine Spur von ihnen. Dann, eine Woche später, erfuhr Cándido, daß Teófilo Aguadulce nach Tepoztlán kommen würde, um seinen kranken Großvater zu besuchen, und als er um zwölf über die Plaza ging, wartete Cándido schon auf ihn. Das halbe Dorf sah zu, als Cándido ihn zur Rede stellte, und er hätte auch sicher Rache geübt und seine Ehre wiederhergestellt, wenn dieser Dreckskerl ihn nicht mit einem gemeinen Ringergriff ausgetrickst hätte, der ihn blutend und benommen in den Schmutz warf. Niemand sagte ein Wort. Niemand streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Seine Bekannten und Nachbarn, Menschen, die er zeit seines Lebens kannte, kehrten ihm einfach den Rücken und gingen davon. Cándido betrank sich. Und als er nüchtern wurde, betrank er sich wieder. Und wieder. Er schämte sich zu sehr, um zu seiner Tante zu gehen, deshalb wanderte er in den Hügeln herum und schlief, wo er umfiel, bis seine Kleider völlig zerfetzt waren und er stank wie ein Ziegenbock. Die Kinder bewarfen ihn mit Steinen und reimten Verse auf ihn, Spottverse zum Seilspringen, und das Quäken ihrer Stimmen schmerzte ihn wie der Schlag einer Lederpeitsche. Schließlich schlug er sich zur Grenze durch, um sich im Norden zu verlieren, aber sein Schlepper war zu dumm: die US-Einwanderungsbehörde erwischte ihn nach nicht einmal hundert Metern und stieß ihn zurück in die dunkle Härte der Nacht von Tijuana.
    Er war pleite, deshalb tanzte er auf der Straße für die Leute, schnorrte turistas um Kleingeld an, kaufte sich einen Benzinkanister und wurde ein tragafuegos, ein Feuerschlucker, der jegliches Gefühl in Lippen, Zunge und Gaumen für ein paar Centavos und noch einmal ein paar Centavos opferte. Was er verdiente, gab er für Schnaps aus. Als er ganz unten angekommen war und ihm alles weh tat, kehrte er zurück nach Tepoztlán und zog bei seiner Tante in das Haus ein, das er ihr gebaut hatte. Um Geld zu verdienen, machte er Holzkohle. Stieg jeden Morgen in die Berge, fällte Holz und verglühte es langsam zu Kohle, um es anschließend an die Hausfrauen zu verkaufen, als Brennstoff für ihre Kohlenpfannen und Öfen, die sie aus alten Pemex-Ölfässern machten. Sonst tat er nichts. Sah nie jemanden. Und dann traf er eines Tages América auf der Straße, und alles wurde anders: »Erkennst du mich denn nicht?« fragte sie, und er erkannte sie zunächst tatsächlich nicht. Sie war sechzehn und sah aufs Haar so aus wie ihre Schwester, nur besser. Er legte das Bündel Brennholz nieder, das er trug, und richtete sich mit einem kurzen Schlenker kerzengerade auf. »Du bist América«, sagte er und machte eine Pause, weil gerade ein Wagen durch die Straße fuhr, der die Hühner erschreckte und einen Taubenschwarm aufflattern ließ, »und ich werde dich mitnehmen, wenn ich nach Norden gehe.«
    Über diese Dinge dachte er nach, als er in der Schlucht lag, empfindlich wie ein rohes Ei, so viel bedeutete ihm América - sein Leben, nicht mehr als das -, und deshalb war er so besorgt, nervös, verängstigt und zutiefst beunruhigt, wie er es noch nie gewesen war. Was, wenn ihr etwas passierte? Wenn La Migra sie erwischte? Wenn irgendein gabacho mit seinem Auto sie anfuhr? Oder einer von den vagos bei der Arbeitsvermittlung sie ... aber daran wollte er erst gar nicht denken. Es ging ihm zu nahe. Sein schmerzender Kopf hielt es nicht aus.
    Die Sonne war über den östlichen Berghang geklettert. Es wurde jetzt schneller heiß als in der letzten Woche, der Dunst löste sich rascher auf - am Nachmittag würde Wind aufkommen, und der Cañon würde die Hitze speichern wie die Wände eines Backofens. Cándido spürte den Wetterwechsel in der Hüfte, im Ellenbogen und in der verletzten Gesichtshälfte. Die Sonne kroch über den Sand und traf ihn im Schritt, auf der Brust, dem Kinn und der ruinierten Nase. Er schloß die Augen und ließ sich treiben.
    Als er aufwachte, hatte er Durst. Er hatte nicht nur Durst, der Durst verzehrte ihn, trieb ihn in den Wahnsinn. Seine Kleider waren durchnäßt, die Decke unter ihm war feucht von seinem Schweiß. Mit aller Kraft kam er auf die Beine und wankte in den Schatten, wo América das Trinkwasser in zwei Milchflaschen aus Plastik aufbewahrte, deren Hals er mit seinem alten Messer abgeschnitten hatte. Er packte die erste

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