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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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hinaufgeklettert war, um ihre Arbeitskraft bei der Vermittlung anzubieten - erfolglos, wie sich herausstellte -, bestand sie darauf, es noch einmal zu versuchen. Cándido war dagegen. Vehement dagegen. Am Vortag hatte er den ganzen sich langsam dahinschleppenden Vormittag gewartet, bis die Sonne direkt über ihm stand - zwölf Uhr mittags, um diese Zeit schloß die Arbeitsvermittlung -, dann noch eine Stunde und dann noch eine, zerrissen von Sorge und Argwohn. Wenn sie irgendeine Arbeit ergattert hatte, würde sie nicht vor Einbruch der Nacht zurück sein, und das wäre fast schlimmer, als hätte sie Pech gehabt, denn es verlängerte seine Sorge - und, noch schlimmer, es vergrößerte seine Scham. Immer wieder stellte er sich vor, daß sie auf den Knien im Haus irgendeines reichen Kerls eine dieser gefliesten Küchen schrubbte, wo die Kühlschränke so groß wie Fleischgefrierkammern waren und der dunkel verglaste Herd das Wasser in sechzig Sekunden zum Kochen brachte, und daß dieser reiche Kerl zusah, wie ihr Hintern in der Luft wackelte, während sie kraftvoll die Schultern vorschob. Endlich - es mußte schon drei Uhr nachmittags sein - kam sie wieder, ein dunkler Punkt, der sich über die sonnengebleichten Felsen bewegte, in der Hand eine dieser dünnen Supermarkt-Plastiktüten, die die Gringos einmal benutzten und dann wegwarfen. Cándido mußte die Augen zusammenkneifen, weil der Schmerz ihm die Sicht nahm. »Wo bist du gewesen?« wollte er wissen, als sie dicht genug herangekommen war. Und dann, leiser, erleichtert und als ob er sich entschuldigen wollte: »Hast du Arbeit gefunden?«
    Kein Lächeln. Damit hatte er die Antwort. Doch sie reichte ihm die Tüte als kleine Gabe und kniete sich als pflichtbewußte Gattin auf die Decke nieder, um ihn auf die gesunde Gesichtshälfte zu küssen. In der Tüte: zwei überreife Tomaten, ein halbes Dutzend harter grünlicher Orangen und eine Steckrübe, die mit schwarzer Erde verschmiert war. Er lutschte die sauren Orangen aus und verspeiste den Eintopf, den sie aus der Rübe und den Tomaten kochte. Woher sie das Essen hatte, fragte er gar nicht erst.
    Und jetzt wollte sie wieder hingehen. Es war dasselbe Ritual wie am Vortag: sie glitt leise wie eine Diebin von der Decke, zog sich das gute Kleid über den Kopf, kämmte sich am Bach das Haar. Es war noch dunkel. Die Nacht umfing sie wie eine zweite Haut. Noch hatte kein Vogel auch nur Atem geschöpft. »Wohin gehst du?« krächzte er.
    Ein Wort aus der Finsternis, das ihn ins Mark traf: »Arbeiten.«
    Er setzte sich auf und zeterte, während sie ein Feuer anfachte und ihm Kaffee und einen Reisbrei mit Zucker kochte, der ihm keine allzu großen Schmerzen bereiten würde, und er erzählte ihr von seinen Ängsten, hob die Verdorbenheit der Welt der gabachos und die Durchtriebenheit der anderen braceros in der Arbeitsvermittlung hervor, versuchte ihrem Herzen jene Bangigkeit einzuflößen, die sie dableiben ließe, bei ihm, wo es sicher war, aber sie wollte ihm nicht zuhören. Oder vielmehr, sie hörte ihm zu - »Ich habe ja auch Angst«, sagte sie, »Angst vor dieser Baracke und vor den Leuten dort und vor dem Verkehr auf der Straße« -, aber es hatte keine Wirkung. Er verbot ihr zu gehen. Brüllte seine Wut hinaus, bis der eingedrückte Backenknochen brannte, stand unsicher auf und drohte ihr mit der geballten Faust, aber es half alles nichts. Sie ließ den Kopf hängen. Sah ihm nicht in die Augen. »Einer von uns muß es versuchen«, murmelte sie. »In ein, zwei Tagen geht's dir besser, aber jetzt würdest du es nicht mal den Pfad hinauf schaffen, und arbeiten kannst du erst recht nicht - vorausgesetzt, es gibt überhaupt Arbeit.«
    Was sollte er sagen? Sie verschwand.
    Und dann begann der Tag, und die Langeweile setzte ein, so stark, daß er beinahe froh war über die Schmerzen in Gesicht, Hüfte und Arm - das war wenigstens etwas, zumindest eine Ablenkung. Er sah sich auf der kleinen Lichtung am Bach um, und das Laub, die Felsen, der Abhang über ihm, ja selbst die Sonne am Himmel schienen unwandelbar und ewig, so tot wie eine Fotografie. Trotz aller Schönheit war dieser Ort eine Gefängniszelle und er ein Häftling, eingesperrt in seine Gedankenwelt. Aber auch ein Häftling hatte etwas zu lesen, vielleicht ein Radio, einen Platz, wo er sitzen und gemütlich scheißen konnte, eine Arbeit - hier in Gringolandia stellten sie Nummernschilder her oder rackerten im Steinbruch, aber wenigstens taten sie etwas.
    Er döste ein,

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