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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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allmächtigen Dollar, mit den brandneuen Kleidern und schicken Frisuren, diesen fremden Sitten und dieser Sprache, die wie das ununterbrochene Geblöke irgendeines vierbeinigen Viehs klang -, so tat sie doch, was getan werden mußte, und sie konnte für sich selbst sorgen. Das konnte sie.
    Nachdem sie am Vortag immer nur in der Ecke gesessen und sich nicht getraut hatte, auch nur ein Wort zu sagen, hatte sie an diesem Morgen gleich zu Anfang allen Mut zusammengenommen und war direkt zu dem Mann gegangen, der die Leute zuteilte, um ihren Namen zu sagen und ihn nach Arbeit zu fragen. Sicher, wenn er ein Gringo gewesen wäre, hätte sie nie den Mund aufgemacht - und er hätte sie ja auch gar nicht verstanden -, aber der Mann war ein Campesino aus Oaxaca, der verwaschene Jeans und einen Strohhut wie die Männer in Tepoztlán trug, und er redete sie gleich mit Du an und nannte sie sogar »Tochter«.
    Mindestens fünfzig oder sechzig Männer saßen im Raum, und sie alle hörten zu sprechen auf, als sie zu dem Mann aus Oaxaca trat. Niemand hatte erkennbar von ihr Notiz genommen, solange sie für sich geblieben war, im Morgengrauen an irgendeinen Baumstumpf gekauert saß und sich ebenso elend wie alle anderen fühlte, aber jetzt kam es ihr vor, als stünde sie auf der Bühne. Alle Männer starrten sie an, jeder einzelne, manche offen, manche verstohlen, wobei ihre Blicke sich hinter den Rändern ihrer Sombreros und Baseballmützen verschanzten, sobald sie hinsah. In der ganzen Meute war sie die einzige Frau. Und obwohl sie die Glotzerei verunsicherte - und auch etwas nervös machte, als ihr auffiel, daß es hier wohl gar keine Arbeit für Frauen gab, da sie die einzige war -, wurde ihr seltsam warm ums Herz, als sie mit dem Mann in den zerschlissenen Jeans sprach. Zunächst wußte sie nicht, woran es lag, aber dann wurde es ihr klar: alle Gesichter im Raum wirkten vertraut. Sie waren es natürlich nicht, aber es waren die Gesichter ihres eigenen Volks, ihres Stammes - Gesichter, mit denen sie aufgewachsen war, und das allein war schon beruhigend.
    Der Mann hieß Candelario Pérez. Er war untersetzt, etwa Mitte Vierzig und man sah ihm an, daß er zupacken konnte. Die übrigen hatten ihn formlos dazu bestimmt, für Ordnung zu sorgen (zum Beispiel dafür, daß die Männer nicht über jeden Wagen herfielen, der auf den Parkplatz einbog, sondern abwarteten, bis sie an die Reihe kamen), den Unterstand sauber zu halten und zwischen den Arbeitern und den Gringos der Kommunalverwaltung zu vermitteln, die das Grundstück und das Bauholz gestiftet hatten, um etwas für die Arbeits- und Obdachlosen zu tun. »Für Frauen gibt's wenig Arbeit hier, Tochter«, sagte er, und sie entdeckte Mitgefühl in seinen Augen. Er kannte sie nicht, und doch ging sie ihm nahe, das spürte sie.
    »Braucht denn niemand in den großen Häusern hier jemanden, der den Backofen putzt oder den Fußboden wischt? Passiert so etwas nie?«
    Alle Männer beobachteten sie. Der Verkehr - enorm viel Verkehr - brauste auf der Cañonstraße vorbei, mit siebzig, achtzig Kilometern in der Stunde, Stoßstange an Stoßstange, kaum Platz zum Luftholen dazwischen. Candelario Pérez betrachtete sie lange. »Mal sehen, Tochter, mal sehen«, sagte er, und dann zeigte er ihr, wo sie sich hinsetzen sollte, deutete auf die Ecke, in der sie nun schon seit über drei Stunden saß.
    Ihr war langweilig. Sie hatte Angst. Wenn sie nun keine Arbeit fand - weder heute noch überhaupt jemals? Was sollten sie essen? Woher sollte ihr Baby Kleidung, Wohnung, Nahrung bekommen? Und diese Arbeitsvermittlung - war das nicht der ideale Ort für die Männer in den hellbraunen Hemden von La Migra? Die brauchten doch nur mit ihren kotzegrünen Lastwagen vorzufahren und Dokumente zu verlangen, la tarjeta verde, die grüne Karte, Geburtsurkunde, Führerschein, Sozialversicherungsnummer. Was hinderte sie daran? Es war wie Fische im Aquarium fangen. Jedesmal, wenn ein Auto auf den Parkplatz fuhr und zwei bis drei Männer sich darum scharten, hielt sie ebenso hoffnungsvoll wie furchtsam den Atem an - sie wollte Arbeit, ganz dringend sogar, und hatte dabei doch schreckliche Angst vor den nichtssagenden blassen Gesichtern der Männer, die sie hinter den Windschutzscheiben anstarrten. Was genau wollten die eigentlich? Welche Regeln gab es hier? Kamen sie von der Einwanderungsbehörde? Waren es Triebtäter, Vergewaltiger, Mörder? Oder anständige Menschen, anständige reiche Leute, die eine Hilfe zum

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