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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Flasche und hob Luft an die Lippen: sie war leer. Die andere auch. Seine Kehle schnürte sich zu.
    Er wußte genau, daß man das Wasser vom Bach nicht direkt trinken durfte - er hatte es auch América eingeschärft. Jeder Tropfen mußte zuerst gekocht werden. Es war lästig - Holz sammeln, Feuer machen, die verrußte Dose in die Flammen stellen -, aber es war notwendig. Anfangs hatte América sich aufgelehnt - wozu dieser Aufwand? Sie waren in den USA, der internationalen Kapitale der Klempner, im Land der Klärwerke und Wasserfilter und Chlortabletten, und jedermann wußte, wie sehr die Gringos von Toiletten fasziniert waren: Wie konnte das Wasser hier gefährlich sein? Ausgerechnet hier? Aber so war es. Er war hier früher schon gewesen, an genau derselben Stelle, und das Wasser hatte ihn krank gemacht. Konnte sie sich denn auch nur ansatzweise vorstellen, wie viele Sickergruben von diesen Bergen abliefen? Unzählige Häuser drängten sich da oben, bis hin zum Arschloch des Cañons - und jedes einzelne entließ seine Abwässer in die Kanäle, die schließlich in diesen Bach mündeten.
    Er wußte genau, daß man das Wasser nicht trinken durfte, und doch tat er es. Er war am Sterben. Ausgetrocknet wie die Hülle von etwas, das die Flut an den Strand gespült hat und das dann einen Monat lang in der Sonne liegenbleibt und eintrocknet wie eine Feige oder ein Salzcracker. Er hatte nicht die Kraft, auch nur daran zu denken, Brennholz zu sammeln, Papierfetzen zu suchen, Streichhölzer, das Wasser fünf Minuten lang kochen zu lassen und dann noch zu warten, bis es wieder abkühlte - undenkbar. Rasend vor Durst und wie von Sinnen warf er sich bäuchlings in den Sand, tauchte das Gesicht in den Algenschaum auf dem Bach und schlürfte, schlürfte, bis er fast ertrank. Schließlich, als sein Bauch so prall wie eine Lederflasche war, legte er sich zurück, sein Durst gestillt. Der Nachmittag rann weiter dahin, er döste, litt Schmerzen und sorgte sich, nur um aufzuwachen und wieder zu leiden und sich zu sorgen.
    Er staunte, wie rasch der Durchfall kam. Als er aus dem Bach getrunken hatte, war die Sonne knapp östlich des Zenits gewesen, und jetzt stand sie höchstens ein oder zwei Spannen weiter im Westen, aber immer noch hoch und immer noch heiß. Wieviel waren das, zwei Stunden? Drei? Aber da kam es schon - ein Rumoren im Darm, die Krämpfe, der verzweifelte, unaufhaltsame Druck, den Männer, Frauen und Kinder bei ihm zu Hause nur allzugut kannten, in diesem armen, unterentwickelten Land, wo sanitäre Einrichtungen ein Luxus und Magen-Darm-Infektionen die häufigste Todesursache waren. Cándido konnte gerade noch durch den Bach und hinter die großen schartigen Felsen taumeln, die er und América als Abort benutzten, ehe es losging. Und als es losging, war es wie eine Explosion, ein brausender Wasserfall aus Dünnschiß, der ihn binnen Sekunden völlig entleerte, und dann kam ein zweiter Krampf, und noch einer, bis er alle Kraft in den Beinen verlor und auf dem Sand zusammenbrach wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat.
    Wie er so dalag, überzogen mit Schweiß und Sand und Schlimmerem, die Hose um die Fußknöchel gebauscht, hörte er auf einmal laute Schreie von weiter oben - im Akzent der gabachos -, und da wußte er, daß es vorbei war. Jetzt kamen sie ihn holen. Sie hatten América erwischt, und sie hatte ihnen erzählt, wo er war. ¡Ay, caray! Gütiger Gott! Wie sollte er davonrennen? Ein halber Krüppel, mit Scheiße beschmiert - und das Rumoren in seinen Gedärmen fing schon wieder an. Und América - wo war América?
    Er schickte ein stilles Gebet an die Virgen Sagrada und wurde eins mit den Felsen.
    América saß im Schatten des überdachten Unterstandes, den die Gringos gebaut hatten, um die arbeitslosen Tagelöhner vor der Sonne zu schützen (und damit gleichzeitig auch von der Straße fernzuhalten, vom Parkplatz vor dem Postamt und generell außer Sicht) und dachte über Cándido nach. In seiner Sturheit akzeptierte er nicht, daß auch sie etwas tun konnte. Er war zu sehr der Boss, der Mann, der patrón. Behandelte sie wie ein ahnungsloses Kind, wie eine, die man an der Hand führen und vor allem Bösen auf dieser Welt beschützen mußte. Nun, sie hatte Neuigkeiten für ihn: Sie war kein Kind mehr. Bekamen Kinder etwa Kinder? In fünf Monaten würde sie Mutter sein, und was dann? Und wenn ihr dieser unbekannte Ort Angst einjagte - das ganze Land, die Gringos mit ihrer überheblichen Art und ihrem

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